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Das erste Foto des Artikels zeigt den Ausgräber Boheti bin Amrani, der eine Rippe präpariert und zusammen mit vielen anderen Einheimischen an den Ausgrabungen am Tendaguru-Hügel und der oft schweren körperlichen Arbeit beteiligt war. Foto: MFN, HISTORISCHE BILD- UND SCHRIFTGUTSAMMLUNGEN 

An einem Herbsttag im Jahr 1907 machen sich ein deutscher Paläontologe, ein Bezirksamtmann und ein Arzt auf den Weg durch die ostafrikanische Savanne. 60 Kilometer, teilweise durch unebene Gebiete, gilt es zu Fuß zu überwinden; also lassen sie sich von afrikanischen Männern tragen. Nach sechs Tagen erreichen sie den Tendaguru-Hügel. Was sie dort vor sich sehen, macht sie sprachlos: Riesige Knochen ragen aus der Erde. Nicht irgendwelche, die Überreste von gewaltigen Dinosauriern. Es sei eine der wichtigsten geologischen Funde in Afrika, meldet der Paläontologe Eberhard Fraas zurück an die Königliche Direktion der wissenschaftlichen Sammlungen, einer Behörde des preußischen Kultministeriums.

Am selben Hügel jubeln im heutigen Tansania auch Agness Gidna und Daniela Schwarz – 114 Jahre später. Die Paläontologinnen bestaunen einen Knochen von beachtlicher Größe. Ein Kollege hatte bemerkt, dass sich da etwas aus dem Boden hebt – es hätte auch ein Stein sein können. Doch mit Hämmern und Spitzhacken klopft das fünfköpfige Team Erdschicht für Erdschicht weg und legt den Knochen nach drei Stunden in all seinen Einzelteilen vollständig frei – 150 Kilogramm ist er schwer, fast anderthalb Meter lang.

Agness Gidna ist zum Zeitpunkt der Ausgrabung leitende Kuratorin für Paläontologie am National Museum of Tanzania. Wie Daniela Schwarz, die Kustodin für fossile Reptilien am Museum für Naturkunde Berlin – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung ist, gehört sie zu einer interdisziplinären Forschungsgruppe aus Paläontologinnen und Paläontologen, Geschichtswissenschaftlerinnen und Geschichtswissenschaftlern, Studierenden und Helfenden. Eine Woche lang führen sie hier Ende September 2021 eine Oberflächenprospektion durch, erkunden also die Umgebung und suchen nach weiteren Wirbeltierfossilien aus der Zeit der Dinosaurier.

Die Suche ist Teil des Kooperationsprojekts »Fossil Heritage Tanzania«, an dem neben dem Museum für Naturkunde auch das National Museum of Tanzania und die University of Daressalam beteiligt sind. Finanziert vom Auswärtigen Amt soll das Projekt die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Tansania und Deutschland fördern. Eine politische Dimension hat es auch, weil beide Länder eine Vergangenheit verbindet: Tansania war von 1885 bis 1918 Teil von Deutsch-Ostafrika, der größten Kolonie des deutschen Kaiserreichs.

Komm, ich will dir zeigen, was du vielleicht brauchen kannst.

TANSANISCHER ARBEITER, 1906

Der Tendaguru-Hügel in Tansania.
Die Fundstelle: Am Tendaguru-Hügel in Tansania Foto OLIVER HAMPE

In dieser Zeit ist der Paläontologe Eberhard Fraas von der Stuttgarter Naturaliensammlung am Tendaguru und untersucht die Funde. Sie sind weltweit einmalig und sollen die deutsche Paläontologie in den folgenden Jahrzehnten maßgeblich prägen. Die Geschichte um die Tendaguru-Ausgrabung beginnt aber nicht mit Fraas, sondern einige Jahre zuvor – inmitten des Maji-Maji-Krieges. Mehrere afrikanische Stämme hatten sich zu einem Aufstand gegen die deutschen Besatzer zusammengeschlossen, der jedoch brutal niedergeschlagen wurde. Zur Strafe vernichtete die deutsche Kolonialtruppe Ernten und Saatgut, verbrannte Dörfer und Felder, 200.000 bis 300.000 Einheimische – ein Drittel der Bevölkerung – sterben durch Kriegshandlungen und Hungersnot.

Auch der Tendaguru-Hügel befindet sich im Kriegsgebiet. Ein deutscher Ingenieur, Bernhard Wilhelm Sattler, erkundet die Gegend zu jener Zeit im Auftrag eines Unternehmens, das hier Edelsteine und Grafite abbauen will. Viel Glück hat er zunächst nicht. Ende 1906, so heißt es, hat ein einheimischer Arbeiter Mitleid mit ihm: Herr, es ist schlimm, du suchst immerfort und findest nie etwas. Komm, ich will dir zeigen, was du vielleicht brauchen kannst. Er führt Sattler über unbefestigte Wege zu einer Stelle, wo sich riesige Knochen im Boden abzeichnen.

Sattler informiert die Kolonialverwaltung im Deutschen Reich. Sie reagiert zurückhaltend: Das seien bestimmt nur Giraffen- oder Elefantenknochen. Sicherheitshalber schickt sie Eberhard Fraas nach Tendaguru. Der meldet zurück: Dies ist keine gewöhnliche Fundstelle! Wilhelm von Branca, der Direktor des Geologisch-Paläontologischen Instituts am Museum für Naturkunde in Berlin, organisiert eine Spendenkampagne und sammelt für diese nationale Aufgabe für das deutsche Kolonialreich eine Summe von 231.607 Mark, die die Grabungen finanzieren. Jahr für Jahr werden zwischen 1909 und 1913 neue Fundstellen entdeckt, bis sich das Grabungsgebiet über eine Fläche von mehr als 80 Quadratkilometern erstreckt.

Teilnehmende der Expedition von 2021 verpacken Knochenteile für den Transport.
Teilnehmende der Expedition verpacken Funde für den Transport. Foto MERYEM KORUN
Schwarz-weiß Fotografie zeigt zwei Männer, die im Wald auf dem Boden inmitten von Knochenteilen sitzen. Einer hält ein großes Fragment in der Hand.

Wir hatten befürchtet, hier nicht mehr viel zu finden.

AGNESS GIDNA

Hier schlagen 114 Jahre später auch die tansanische Paläontologin Agness Gidna und ihr Team die Zelte auf. Schon bei ihrer Ankunft stoßen sie auf Knochen, direkt im Camp. In den Tagen darauf durchkämmen sie - angeleitet von den Menschen vor Ort und vom Tanzanian Forest Service - die Umgebung. Am Ende haben sie über eine Tonne Materialien ausgegraben. Sie wickeln die Knochen in Schaumstoff und Verpackungsmaterial ein, schützen sie teilweise aber auch mit Matratzen und Laken aus dem Camp. Ein Pick-up transportiert die Fundstücke nach Daressalam, die größte Stadt Tansanias und sein Regierungssitz.

Erste Untersuchungen legen nahe, dass wir Knochen von Sauropoden gefunden haben, die pflanzenfressenden Dinosaurier mit den langen Hälsen, sagt Daniela Schwarz, Paläontologin am Museum für Naturkunde Berlin und Dinosaurierexpertin im Tendaguru-Team. Für sie alle seien diese Funde eine große Überraschung gewesen. Auch Agness Gidna sprüht vor Begeisterung, wenn sie davon erzählt. Wir haben das überhaupt nicht erwartet! Wir haben eher befürchtet, hier nicht viel zu finden, denn es war ja bekannt, dass früher bereits hunderte Tonnen Material ausgegraben und nach Europa verschifft worden waren.

Genau genommen: 225 Tonnen. Bis zu 500 einheimische Arbeitskräfte sind an der Expedition vor über 100 Jahren beteiligt, als Grabungsarbeiter und Träger. Auf tagelangen Fußmärschen schleppen sie das Material in die tansanische Küstenstadt Lindi, tragen Holzkisten und Bambustrommeln auf ihren Schultern und Köpfen.

Die Funde übertreffen alles, was bis dahin bekannt war. Für die Paläontologie sind sie bis heute ein Wissensschatz von unschätzbarem Wert. Aus dem damaligen Tendaguru-Bestand sind Überreste von so vielen verschiedenen Dinosauriern erhalten: von pflanzenfressenden Tieren bis hin zu zwei- und vierbeinigen Raubsauriern. Diese Vielfalt ist weltweit einmalig, erklärt Daniela Schwarz. An den gut erhaltenen Fossilien lassen sich etwa die Körperform oder die Bewegungsabläufe der Dinosaurier untersuchen.

1910 treffen die ersten Kisten in Berlin ein. Die Sichtung, Präparation, Klassifizierung und Erforschung des Materials dauern Jahrzehnte. Erst 1937 wird der Brachiosaurus brancai ausgestellt – noch heute steht das mit einer Höhe von 13,27 Metern größte montierte Dinosaurierskelett der Welt im Sauriersaal des Naturkundemuseums. 2009 wurde es neu klassifiziert und zum Giraffatitan brancai umbenannt. Was viele vielleicht nicht wissen: Das Skelett ist ein Puzzle, zusammengesetzt aus originalen Fossilien mehrerer Dinosaurier und nachgebildeten Gipsteilen.

Skelett des Giraffatitan im Sauriersaal des Berliner Museums für Naturkunde.
Das Skelett des Giraffatitan steht heute im Sauriersaal des Museums für Naturkunde. Foto CAROLA RADKE/MFN
Das Skelett des Brachiosaurus im Museum für Naturkunde. An der Wand hängt eine Hakenkreuz-Flagge.
Aufbau und Erstpräsentation des Brachiosaurus brancai / Giraffatitan brancai im Museum für Naturkunde, 1937. Foto: MFN
Männer stehen in einer langen Reihe am Straßenrand, vor sich Bündel mit den Knochenfrachten.
Das Diapositiv zeigt die zu hunderten als Träger eingesetzten Männer, die die Knochenfrachten in vier bis fünf Tagesmärschen vom Ausgrabungsort am Tendaguru an die Küste transportierten. Foto: MFN
Etwas kleineres Dinosaurierskelett im Museum für Naturkunde.
Auch der Kentrosaurus im Naturkundemuseum stammt aus Tansania. Foto HWA JA GÖTZ/MFN

In den vergangenen Jahren ist der Giraffatitan vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit geraten, im Zuge der Debatte um koloniale Aufarbeitung und Restitution, wenngleich es bis heute keine offizielle Rückgabeanfrage seitens der tansanischen Regierung gibt. Zum Glück, denn das Museum will sich auch nicht von seinem Publikumsliebling trennen. Die Argumentation: Schließlich wurde der Giraffatitan durch die wissenschaftliche Arbeit und mit enormem Aufwand erst hier zum Dinosaurier-Exponat zusammengesetzt. Allein für einen Halswirbel haben die Mitarbeitenden am Berliner Museum für Naturkunde 450 Arbeitsstunden benötigt.

Gleichzeitig waren es einheimische Arbeiterinnen und Arbeiter in Tansania, die dort vor über 100 Jahren unzählige Stunden schufteten – vom Finden und Graben, Präparieren und Verpacken bis hin zum Transport der Funde zur Küste. Ohne ihre Vorarbeit hätte es kein Knochen nach Berlin geschafft.

Auf die Frage nach der Rückgabe gibt Agness Gidna keine klare Antwort. Ich empfehle, dass wir erst einmal die aktuellen Funde präparieren, erforschen und ausstellen, sagt sie. Nur so können wir auch das nötige Knowhow sammeln, falls es irgendwann zu einer Rückgabe der früheren Objekte kommen sollte. Die Diskussion um die Rückgabe ist dabei nur ein Teil einer komplexeren Frage. Nämlich: Wie gehen europäische Museen mit der problematischen Geschichte einiger Sammlungsobjekte um – und wie übernehmen sie nachhaltig Verantwortung?

Es gibt viele Positionen und Handlungsmöglichkeiten in dieser Thematik. Wichtig ist, dass wir mit verschiedenen Partnern, mit den Forschenden und den Menschen vor Ort darüber reden. Es ist ein Prozess, sagt Meryem Korun, die das Projekt »Fossil Heritage Tanzania« am Museum für Naturkunde leitet.

Die Forscherin Agness Gidna legt am Tendaguru einen Dinosaurierknochen frei.
Die tansanische Forscherin Agness Gidna legt am Tendaguru-Hügel einen Dinosaurierknochen frei. Foto DANIELA SCHWARZ
Der tansanische Historiker Musa Sadock befragt den Bewohner eines nahegelegenen Dorfes.
Die Geschichte der Ausgrabungen am Tendaguru wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Der tansanische Historiker Musa Sadock rekonstruiert sie durch Interviews mit Menschen aus nahegelegenen Dörfern.

Was die Tendaguru-Expedition angeht: Hier bemüht sich das Museum zum einen die kolonialen Umstände der Ausgrabung transparent zu machen: Wie wurden die Funde in Besitz genommen und nach Berlin gebracht? Welche Akteure waren beteiligt – und wer wurde später für den Erfolg des Unterfangens geehrt?

Zum anderen möchte das Museum die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Tansania stärken. Dazu gehört auch das Projekt »Fossil Heritage Tanzania«. Es versucht dabei, vieles richtig zu machen. Zum Beispiel bleiben die Funde in Tansania. Sie werden dort aufbewahrt, präpariert und, falls gewünscht, ausgestellt, so Korun. Wir haben signalisiert, dass wir bei wissenschaftlichen Arbeiten und Weiterbildungsmaßnahmen gerne unterstützen. Aber die Federführung und die wissenschaftliche Leitung haben die tansanischen Partner.

Eine weitere Besonderheit des Projekts: Parallel zur Prospektion hat ein Team unter der Leitung des tansanischen Geschichtswissenschaftlers Musa Sadock von der University of Daressalam mit Bewohnerinnen und Bewohnern aus nahgelegenen Dörfern gesprochen, um unter anderem die mündliche Überlieferung aus der Kolonialzeit zu erforschen. Wie sich herausstellt, wurde die Geschichte über die Ausgrabung am Tendaguru von Generation zu Generation weitergegeben. Ein Dorfbewohner hat sogar eine Namensliste der Arbeiter aus der Kolonialzeit aufbewahrt.

Was die alten Knochen und das Dinosaurierskelett in Berlin angeht, gibt es unterschiedliche Meinungen, sagt Sadock. Manche wollen die Knochen zurück nach Tendaguru holen, um hier ein Museum aufzubauen, den Tourismus anzukurbeln und die Region zu stärken. Andere hätten lieber einen finanziellen Ausgleich, um damit Straßen, Wasserleitungen, Schulen und andere Infrastrukturen zu verbessern, die sie hier dringend brauchen.

Was müsste sich verändern, damit wissenschaftliche Expeditionen in Zukunft noch mehr auf Augenhöhe stattfinden? Das aktuelle Projekt wurde von deutscher Seite finanziert – das erzeugt eine gewisse Asymmetrie. Wir würden uns deshalb wünschen, dass in Zukunft unabhängigere Formen der Finanzierung möglich sind, sagt Korun. Schwarz ergänzt: Es herrschen auch Asymmetrien, was das wissenschaftliche Arbeiten betrifft. Immer noch definieren vor allem Nordamerika und Europa, wie Wissenschaft und Forschung heute betrieben werden. Wenn in Zukunft wissenschaftliche Fachbereiche im Globalen Süden mehr ausgebaut werden und ihre Perspektiven mehr Gewicht bekommen, dann ergeben sich auch mehr Möglichkeiten, Wissenschaft sichtbar zu machen und zu betreiben.

Die Präparation und Untersuchung der neuen Funde nehmen noch einige Zeit in Anspruch. Währenddessen wird die Ausgrabungsstätte in Tendaguru ausgebaut und schon jetzt für kommende Expeditionen vorbereitet. Denn der Erfolg des Projekts hat das öffentliche Interesse und das der Fachwelt für diesen Ort neu entfacht. Und dass unter dem Boden des Tendaguru noch viele große knochige Überraschungen liegen, ist sehr wahrscheinlich.

Federführung und wissenschaftliche Leitung haben die tansanischen Partner.

MERYEM KORUN

HINTERGRUND

Unser Text zu den Ausrabungen am Tendaguru beruht unter anderem auf dem Buch »Dinosaurierfragmente« von Ina Heumann, Holger Stoecker, Marco Tamborini und Mareike Vennen, das die Geschichte der Tendaguru-Expedition und die in ihrem Rahmen gefundenen Objekte beleuchtet. Eine kurze Besprechung des Buchs finden Sie hier.

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