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AUENFILZ 

Als ich das erste Mal allein ins Moor ging, klopfte mein Herz schnell. Ich verließ die neblige Straße, ging über ein entwässertes Feld, überquerte einen Graben.

Der Wald war dunkel, aber ich wusste, dass es dort war, hinter den Tannen, den umgefallenen Baumstämmen, den borstigen Hügeln. Ich hatte es auf Google Maps gesehen, seinen hell-bräunlichen Rücken, darauf die Punkte von Bäumen, spärlich. Ich dachte ganz fest an dieses Satellitenbild, während die Finsternis in meinen Körper krauchte. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich niemandem in dem großen Gasthaus Bescheid gesagt, dass ich weder meinen Standort noch die Idee mit jemandem geteilt hatte.

Umrisse, tiefe Zweige, Verknotetes zwischen meinen Füßen, Löcher im Boden. Stolpern, Luft holen, klopfendes Herz. Ich kroch durch das dichte Buschwerk, tauchte unter Zweigen hindurch, um die nächsten direkt im Gesicht zu spüren. Würde gleich ein Wildschwein hervorspringen? Wartete es dort, wo ich lang musste? Sollte ich laut sein? Ich hielt den Atem an, um meine Gedanken zu stoppen. Dann wurde der Himmel weit.

Es war, als öffnete sich mein Herz. Als würde ich atmen können. Dort, im Moor, standen kleine Bäume, deren Zweige kümmerlich eng beieinander wuchsen. Perlen von Heide auf dem Boden, und meine Schritte schmatzten.

Dem Thema Moor war ich vier Jahre zuvor begegnet. Ich studierte Biochemie und hatte Angst vor dem Klimawandel. In einer Vorlesung hörte ich, dass Moore der größte terrestrische Kohlenstoffspeicher sind, obwohl sie nur drei bis vier Prozent der Landoberfläche der Erde bedecken. Dass Moore doppelt so viel Kohlenstoff enthalten wie die gesamte Waldbiomasse der Erde. Ich hörte auch, dass in Deutschland 95 Prozent der Moore entwässert, landwirtschaftlich genutzt, abgetorft oder bebaut sind, sich der Torfboden des Moores im trockenen Zustand zersetzt und Treibhausgase emittiert. In Mecklenburg-Vorpommern, wo ich damals studierte, kommen ein Drittel der gesamten Emissionen des Landes aus entwässerten Mooren, mehr als aus dem Verkehrssektor. Nur wenn wir unsere Moore wiedervernässen, können wir diese Emissionen stoppen und die Moore wieder zu Kohlenstoffspeichern machen.

Als ich diese Fakten hörte, vibrierte es in mir. Ich konnte hier und jetzt etwas gegen den Klimawandel tun. Neben meinem Studium drehte ich einen Dokumentarfilm über das Moor, trat einem Jugendkollektiv bei, das sich für das Ökosystem einsetzt, begleitete Forschende zu ihren Experimenten, erforschte selbst Moormikroorganismen und schrieb unzählige Texte zu dem Thema.

Ich wollte alles dafür tun, die Moore zu beschützen. Doch mit der Zeit veränderte sich meine Beziehung. Ich ging jedes Wochenende ins Moor und merkte zusehends, wie es mir immer weniger nur darum ging, das Moor zu beschützen. Ich fühlte mich vom Moor beschützt. Vor einer Welt, die mir zu laut und zu schnell war. Ging ich ins Moor, suchte ich nach der Ruhe. Danach, wie der Boden meine Schritte festhielt und mich verlangsamte. Dann spitzte sich mein Leben zu.

Ich zog um, arbeitete zu viel. Es kam ein Winter, der in meiner Erinnerung verschmiert, und dann ein März, in dem meine Beziehung zerbrach. Seitdem bin ich nicht mehr ins Moor gegangen, bin zu Hause geblieben, hinter den Vorhängen, und hörte die vier Spuren der Straße, auf der sie viel zu schnell fahren. Ich wollte, dass es wehtut, weil ich so enttäuscht von mir war, weil ich alles kaputtgemacht und mich dabei verloren hatte. Mich und das Moor.

Gemälde vom Moor
Bild PEAT BOG ON JÆREN (1900) VON KITTY KIELLAND

WEIHERMOOS

Fünf Tage später schlägt mein Mitbewohner vor, rauszufahren, mich mitzunehmen in ein Moor, das ich noch nicht kenne. Wir radeln in der Abendsonne aus der Stadt, der Wind zerrt an meiner Jacke, und in mir fühlt es sich an, als würden sich die Gedanken verknoten. Mein Mitbewohner dreht sich um, fragt, ob alles in Ordnung sei, ich trete schneller, will nicht über mich reden. Diese ganze Sache hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Straße geht in einen Trampelpfad über, und ich spüre jeden Schlag, der durch den Lenker in meinen Körper fährt.

Am Weiher hat das Licht die Farbe von Nebel. Die Luft schmeckt angenehm modrig, und ich versuche nur sie in mich hineinzulassen. Das Moor ist eingezäunt. Hinter dem Zaun wachsen Pflanzen durcheinander. Ich möchte hinein. Aber es gibt ein Verbotsschild. Wir gehen weiter, bis ein Teil des Weges zu einem Steg wird. Darunter sind petrolblaues Wasser und eine leuchtende Sumpfdotterblume. Ich betrachte die gelbe Blüte durch meine Kamera. Die Kontraste, die Unschärfe, die Nähe wirken so, wie ich mich fühle. Was ist es an Mooren, dass ich mich in ihnen finde?

Es macht etwas mit mir, hier draußen zu sein. Die Luft, die Stimmen der Vögel, die speerartigen Sprösslinge des Schilfs. All das bin ich. Ich bin Teil dieses Lebensraumes, nicht weil ich aus ihm stamme, sondern weil ich mich für ihn entscheide.

Sarah Kirsch schreibt in ihrem Buch »Allerlei-Rauh«, wie sie »allmählich wie ein Stück Natur in diesem Flachland war, der brütenden Sonne ausgesetzt wie ein x-beliebiger modernder Baumstamm«, sodass ihr »jedes Zeitgefühl abhanden kam und mein Körper so porös wurde, daß die Lerchen durch ihn hindurchgerieten«. Genau das passiert hier, ich lasse diese Welt in mich hinein.

Auf dem letzten Stück des Weges biegen wir doch ab. Mein Mitbewohner sagt, auf der Wiese sei noch kein Moor und das Betreten deswegen weder verboten noch schädlich. Das Licht schwindet, das Reet in der Ferne wirkt wie Dunst. Er bleibt stehen. Ich gehe weiter, bis der Boden unter mir dunkler wird, und ich höre, wie er beginnt, Geräusche zu machen. Zwischen meinen Füßen stechen Schilfsprößlinge aus dem nassen Untergrund. Ich hocke mich hin und berühre den Boden. Ich fühle das Wasser und schließe die Augen. Ich muss gar nicht weitergehen, für heute reicht es. Ich mache ein Bild vom Schilf, wie es sich streckt. Ich hatte früher so viel Mut, auf die Welt zuzugehen. Ich möchte ihn wiederfinden und fühle, irgendwo in mir ist er noch.

Gemälde vom Moor
Bild PEAT BOG ON JÆREN (1882) VON KITTY KIELLAND
Gemälde vom Moor
Bild PEAT BOG ON JÆREN (1901) VON KITTY KIELLAND

PAULINENAUE

Wieder ein paar Wochen später ruckelt es erneut unter mir. Das erinnert mich an meine Zeit im Studium, als mich Forschende schon einmal mit zu ihren Experimenten nahmen. Auch heute haben wir einen dünnen Metallstab names Moorsonde dabei. Alle tragen Gummistiefel, es wird vom »Feld« gesprochen und von einem Katzensprung, den die Moorfläche vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung entfernt ist.

Ich hatte Joana Bergmann zuvor gegoogelt und war auf der Plattform X auf ein Foto der Biodiversitätsforscherin gestoßen. Es war ein Drohnenbild der nassen Flächen, darunter schrieb Bergmann: Es ist einfach jedes Mal magisch, wenn ich dort draußen bin. Ich sitze mit ihr im Auto, weil ich verstehen möchte, was sie erforscht, und weil ich dachte, dass sie vielleicht fühlt wie ich.

Autotüren knallen, Bergmann geht voran, die Moorsonde in der Hand, über schlammigen Boden. Ich frage, worauf sie achtet hier draußen. Muster, sagt sie mit zusammengekniffenen Augen, Flächen mit unterschiedlichen Pflanzengesellschaften. Das Moor hier sei nicht das ganze Jahr nass. Dadurch sei es keine einheitliche Fläche, sondern habe sehr verschiedene Bereiche. Bergmann interessiert das Zusammenspiel der Pflanzen mit ihrer Umwelt. Ich frage, ob wir noch weiter hineinkönnen und während der Boden nasser wird, erzählt Bergmann vom Wandel, weil vor Kurzem genau hier noch Wasser gestanden habe. Als das Wasser sich zurückzog, starben auch die Pflanzen. Wie gemalt liegen grau-bräunliche Stängel auf dem Boden. In zwei Wochen aber, sagt Bergmann, würden schon wieder andere Pflanzen nachkommen und es wäre plötzlich wieder ganz saftig und gesund. Die Samen seien alle im Boden vorhanden, würden aber erst mit dem sich übers Jahr verändernden Wasserpegel keimen. Erst mit dem Wechsel finden verschiedene Pflanzen ihren Platz.

Nur wenn wir unsere Moore wiedervernässen, können wir sie zu Kohlenstoffspeichern machen.

Ich blicke auf die weite Fläche und sehe Neuanfang. Doch Bergmann spricht schon weiter, dass Moore versteckte Orte seien, ein verstecktes Thema. Die Landwirte wissen davon, die Wissenschaftler und die Politik. Aber der Großteil der Gesellschaft? Durch die Entwässerung und Nutzung der Moore, habe sich das Aussehen der Ökosysteme verändert – bei einem entwässerten Acker oder einer Weide denke niemand an ein Moor. Erst mit dem zurückkehrenden Wasser werde der Moorcharakter sichtbar und eigentlich erst dann könnten Menschen das Bedürfnis entwickeln, dass dieser Ort bleibt oder geschützt wird.

Wir fahren zu einer anderen Fläche. Sie sagt, dass Deutschland im Wandel sei. Die Politik hätte Moore als Klimalösung verstanden und wolle die Moore wiedervernässen. Damit müsse sich aber die Landwirtschaft auf Mooren radikal ändern. Statt Kartoffeln und Kühe, Rohrkolben und Wasserbüffel. Es gäbe nun vier Modellregionen, in denen man das testen wolle. Hier im Nordwesten Berlins sei eine, sie ist Teil dieses Forschungsprojekts das zehn Jahre laufen soll.

Ich frage, ob sie die Angst vor dem Klimawandel antreibt. Sie sagt, sie spüre keine Angst, sondern Verantwortung: Wir haben die Nummer verbockt und deswegen sollten wir einfach versuchen, das Möglichste dafür zu tun, um die Folgen, so weit es geht, in Grenzen zu halten.

Sie hat dieses Leuchten. Das Leuchten, dass man hat, wenn man weiß, dass die Moore unsere Chance sind. Mit einem Mal spüre ich es wieder. Im Moor zu sein, gibt mir eine Aufgabe. Ich habe eine Beziehung zu einer Welt, die kaum mehr sichtbar ist. Wenn ich es schaffe, sie nicht nur zu fühlen, sondern sie andere fühlen zu lassen, hinzusehen, zu hören, zu riechen, kann das zu Wandel führen. Der Wandel sitzt in mir.

Ich stehe mit den Stiefeln bis zum Schaft im Wasser und schiebe den langen Stab ins Moor. Um ein Moor zu erkennen, muss man in den Boden gucken. Findet man eine Torfschicht, die mehr als 30 Zentimeter tief ist, gilt es in Deutschland als Moor. Torf besteht aus Resten abgestorbener Pflanzen, die sich auf dauerhaft nassem Land ablagern. Durch Torfschichten lässt sich ein Stab schieben, wie durch Butter. Ich schiebe und schiebe tiefer. Das kann nicht sein, sagt Bergmann. Ich schiebe weiter. Es hört nicht auf, sage ich. Dann stoße ich auf eine feste Schicht, wir halten den Finger auf die Stange und ziehen sie heraus. Ein Meter Sechzig. Von deinen Füßen bis zu deinen Augen, so tief ist der Moorkörper hier, sagt Bergmann. Das sei ein ernstzunehmender Moorkörper. Torf wächst extrem langsam, etwa einen Millimeter pro Jahr. Mit einem Meter Sechzig könnte dieses Moor 1.600 Jahre alt sein. Jahrhunderte voller Geschichten liegen in ihm. Mit einem Mal bin ich mit meinen Sorgen unbedeutend.

Zurück gehe ich langsam, merke wie das Moor jeden meiner Schritte kurz hält. Es fühlt sich an, als würde die Enttäuschung von mir selbst aufbrechen, daraus etwas Neues wachsen. Ist es Mut? Vielleicht ist es ja wie mit den Rissen in den Samen, von denen Joanna Bergmann erzählt hat: Wenn nur der Wasserstand hoch genug ist, sprießt er.

Gemälde vom Moor
Bild IM WEISSEN MOOR (1915) VON LUDWIG DILL

ALTENAUER MOOR 

Lange galten Moore als Orte, in die der Mensch nicht gehört. Frösche, Amseln und andere Arten hatten hier ihr Habitat, aber vom Menschen konnte das Moor erst nach dem Entwässern betreten werden – so der Literaturwissenschaftler Niels Penke in der »Kulturpoetik des Moores«. Auch schreibende Menschen traten nicht ein ins Moor, eher projizierten sie Angst auf den unbekannten Ort. In einer Analyse über Moore im Film schreibt Hans Wulff: Will der Held das Ziel erreichen — jemanden zu retten oder zu befreien [...] —, muss er sich der Herausforderung stellen, den Sumpf zu überwinden [...], immer geht es darum, die inneren Wider- stände und Ängste überwinden zu müssen, wenn man ans Ziel gelangen will.

Ich stehe in einem Moor unterhalb Münchens. Über das Moos sind lose Holzbretter gelegt, auf die ich mich lege und den Moorkörper unter mir spüre. Was wenn es nicht ums Überwinden geht, sondern ums Eintreten? Was finden wir, wenn wir bleiben, statt zu durchqueren?

Mit einem Mal spüre ich es wieder. Im Moor zu sein, gibt mir eine Aufgabe.

Ich glaube, wir brauchen Geschichten. Über das Gefühl, hier draußen zu sein, den Mut, den es uns geben kann, auf so etwas Altem, Verborgenem, Anderem zu gehen. Alles verschwindet früher oder später — alte Baumstämme, Dachse, Vogelnester im Moor, schreibt Malin C.M. Rønning. In ihrem Roman »Skabelon« sucht ein junges Mädchen, vernachlässigt von ihrer Familie, Zuflucht in dem Moor und Wald neben ihrem Haus. Es braucht solche Geschichten, wie wir der Natur und Ungewissheit auf eine neue Weise begegnen können. Über Orte, an denen wir uns als Menschen nicht zurechtfinden, nicht im Mittelpunkt stehen, nicht beherrschen, sondern demütig annehmen. Es braucht den Mut, Unordnung und Unsicherheit zuzulassen. Und der ist in uns.

Ein Satz meines Moorprofessors Hans Joosten kehrt zu mir zurück: Im Moor hat man die Unsicherheit unter den Füßen, aber den weiten Himmel vor sich. Ich stehe auf, fühle das Wanken der Bretter unter mir und folge ihnen. Sie enden vor einem See. Die Oberfläche ist so spiegelglatt, dass ich sie durchbrechen möchte mit meinem Körper, doch dann erscheinen Wellen und ein kleiner Kopf schiebt sich hindurch. Eine Ringelnatter teilt das Wasser, zieht zum Ufer, versteckt sich in den Büschen. Ich fühle mein Notizbuch im Rucksack. All das hier fühlt sich wie ausbrechen an, aus mir, aufbrechen. Ich möchte wieder wagen. Eine Geschichte schreiben, von Mooren und Hoffnung.