LEIBNIZ Herr Kettemann, Sie haben in den USA studiert und sind beruflich häufig dort. Könnten Sie sich vorstellen, auf der anderen Seite des Atlantiks zu leben?
MATTHIAS C. KETTEMANN Ich bin der größte Fan von Amerikas Kultur und Aufbruchsgeist, aber ich würde mit meiner Familie nicht nach Amerika ziehen. Die Gesellschaft ist stark polarisiert und es gibt eine Entsolidarisierung, die mir Unbehagen bereitet. Wenn ein Knochenbruch die Privatinsolvenz bedeuten kann, dann macht das etwas mit den Menschen. Und wenn die eine Hälfte des Landes davon überzeugt ist, dass die andere Hälfte Teil einer Verschwörung ist, dann macht das etwas mit der Art und Weise, wie man miteinander umgeht. Es ist etwas in Schieflage geraten.
Wie genau schätzen Sie den Zustand der Gesellschaft in den USA ein?
Damit eine Gesellschaft funktioniert, braucht es einen öffentlichen Diskurs, der gewissen Regeln folgt, auf einem Grundkonsens beruht. Wie bei einem Spiel, bei dem sich alle bei den Regeln einig sind. In den USA ist die Gesellschaft so polarisiert, dass der gesellschaftliche Grundkonsens, die gemeinsamen Regeln, fehlen. Man könnte sagen, es mangelt an gesellschaftsübergreifenden Wahrheiten. Fakten sind zu einer politischen Verhandlungsmasse geworden. Was tatsächlich wahr und belegbar ist, spielt kaum noch eine Rolle, es geht eher darum, woran man glaubt. So kann eine Gesellschaft auf Dauer nicht funktionieren, denn fehlen die faktischen Grundlagen, der Boden auf dem Diskurse stattfinden müssen, kann nichts mehr ausgehandelt werden.
So ähnlich fühlt es sich in Deutschland doch auch an, oder?
Das würde ich nicht so sagen. In den großen Fragen unserer Zeit, also wenn es um gesellschaftliche Gerechtigkeit, Umverteilung, den Klimawandel geht, sind die Menschen in Deutschland sehr nah beieinander. Meinungsverschiedenheiten gibt es bei faktisch kleineren Themen, wie beispielsweise der Gendersprache. Das ist ein symbolisches Thema, aber vor allem ist es ein wunderbares Thema, um die Emotionen hochkochen zu lassen. Dieses und andere Themen werden von Akteuren genutzt, die wollen, dass wir uns streiten. Populistische Parteien wie die AfD profitieren beispielsweise davon, wenn in der Gesellschaft das Gefühl besteht, dass wir uns nicht mehr einig werden können, wir niemandem mehr glauben können, dass es keine Wahrheiten mehr gibt. Ich halte es für gefährlich, dieses Narrativ zu vertreten. Es ist wichtig, diejenigen, die versuchen uns zu trennen, in die Schranken zu weisen.
Wie erklären Sie dann, dass immer mehr Menschen in Deutschland, aber auch in der EU extrem und insbesondere extrem rechts wählen?
Die Menschen leiden unter etwas, das der Soziologe Steffen Mau mal »Veränderungserschöpfung« genannt hat. Wir leben in dynamischen Zeiten, in denen Wertesysteme und traditionelle Machtverhältnisse in Frage gestellt werden und sich wandeln. Der alte weiße Mann ist nicht mehr automatisch, nur weil er alt und weiß und ein Mann ist, der mächtigste im Raum, sondern immer öfter ist das vielleicht auch mal eine junge Frau mit Migrationshintergrund, weil sie eben besser ausgebildet ist. Und dann fordert diese junge Frau auch noch, dass man Gendersprache verwendet. Das führt zu einem Veränderungsdruck, der zum Beispiel von rechten Parteien - Steffen Mau nennt sie Polarisierungsunternehmer – aufgefangen wird. Diese Parteien geben den Menschen das Gefühl, gehört zu werden und bestärken sie in dem Glauben, dass in Deutschland etwas in Schieflage geraten ist. Dass das nicht stimmt und dass die rechten Parteien überhaupt keine guten Alternativvorschläge haben, steht auf einem anderen Blatt.


Welche Indikatoren gibt es für gesellschaftlichen Zusammenhalt? Wie untersucht man ihn?
Das Leibniz -Institut für Medienforschung ist Teil des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ), das Indikatoren entwickelt, um gesellschaftlichen Zusammenhalt zu untersuchen. Dazu gehören zum Beispiel die sozio-ökonomischen Unterschiede in der Bevölkerung, also zum Beispiel Unterschiede beim Grad der Bildung oder dem Einkommen. Je geringer diese Unterschiede sind, desto stärker ist der gesellschaftliche Zusammenhalt. Ein weiterer, oft unterschätzter Faktor ist die Überzeugung, die eigenen Lebensumstände verbessern zu können. Und auch gemeinsame, geteilte Narrative sind ein wichtiger Faktor. Damit ist das Gefühl gemeint, Teil eines größeren Ganzen zu sein und auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten. Es gibt außerdem noch eine rechtliche Dimension, die sehr wichtig ist.
Was beinhaltet sie?
Der Staat muss durch Gesetze die Grundlage für gesellschaftlichen Zusammenhalt schaffen. Da ist zum Beispiel der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der sicherstellt, dass die Bevölkerung gut und ausgewogen informiert wird und dass gesellschaftliche Diskursprozesse stattfinden können. Zum anderen muss der Staat dafür sorgen, dass Bildung verfügbar ist. Denn Bildung macht den Weg frei zu gesellschaftlicher Teilhabe.
Ist all das in Deutschland gegeben?
In Deutschland haben wir ein stabiles Fundament: unser Grundgesetz. Wir haben eine über die Jahre gewachsene Medienlandschaft, die politische Debatten auf Augenhöhe ermöglicht. Bei den Medien gibt es einen guten Mix aus privaten und öffentlichen Akteuren, und wir haben eine solide Wissenschaftslandschaft, die uns hilft zu verstehen, welche Probleme es zu lösen gilt. Der europäische Staatenverbund gibt uns Sicherheit und politische Stärke und führt zu einem Gefühl des gesellschaftlichen Zusammenhaltes.
Warum klappt das in den USA nicht?
Wir sehen in den USA eine Kultur der Vereinzelung, die aus dem Narrativ »Vom Tellerwäscher zum Millionär« entstanden ist. Was den Menschen früher Mut gemacht hat und sie angetrieben hat, ihr eigenes Glück selber in die Hand zu nehmen, führt heute dazu, dass Menschen, die Hilfe benötigen, von der Gesellschaft und vom Staat alleine gelassen werden. In einer Gesellschaft, in der es angeblich jeder schaffen kann, wenn er nur hart genug dafür arbeitet, braucht es keinen Staat, der dich ausbildet, der dich versichert und für dich da ist, wenn du Hilfe brauchst; denn du kannst es ja auch alles alleine schaffen. Wenn du es nicht schaffst, dann hast du dich nicht genug angestrengt. Das Scheitern des Einzelnen ist in den USA ein individuelles Versagen, während wir es in Deutschland allgemein als Versagen der Gesellschaft werten, wenn die Schwächeren zurückgelassen werden.
Bräuchte es in den USA einen Staat, der mehr in das gesellschaftliche Miteinander eingreift?
Das könnte zumindest in einigen Punkten helfen, aber der Staat ist in den USA schwach. Nehmen wir das Beispiel des Zugangs zu Informationen: Es gibt keinen funktionierenden öffentlich-rechtlichen Rundfunk, regionale Qualitätsmedien sterben aus und die überregionalen Medien stehen entweder den Republikanern oder den Demokraten nahe. Darunter leidet die Debattenkultur enorm, denn es fehlt den Menschen an Möglichkeiten, sich kritisch mit Vor- und Nachteilen politischer Ideen auseinanderzusetzen. Das führt zu sehr polarisierten Debatten, bei denen sich die Menschen in zwei Lager aufteilen und einander unversöhnlich gegenüberstehen.

Was verbindet die Menschen in den USA heute, wenn es nicht mehr der Glaube an eine bessere Zukunft ist?
Tja, das ist das große Problem. Ich sehe keine gemeinsame Stoßrichtung, kein gesamtgesellschaftliches Commitment zur Klärung der wichtigsten Fragen der Zukunft, sondern ein starkes Auseinanderdriften. Umfragen zeigen, dass zwischen 60 und 70 Prozent der Menschen, die die Republikaner wählen, glauben, dass Biden die Wahl vor vier Jahren gestohlen hat. Das heißt, ein großer Teil der amerikanischen Bevölkerung hängt einer möglicherweise folgenreichen Lüge an. Der amerikanischen Gesellschaft fehlen sinnstiftende Impulse, gemeinschaftliche Ziele, die zum Beispiel in der öffentlichen Debatte ausgehandelt werden könnten. Wenn es Menschen an Sinn fehlt, dann will diese Leere gefüllt werden und Menschen wenden sich ab, verstricken sich in Verschwörungstheorien oder verlieren sich in Extremen.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Das sehen wir beispielsweise an der Abtreibungsdebatte in den USA. Das Thema ist riesig und hochpolarisiert, weil manche Menschen ihren Sinn darin gefunden haben, gegen Abtreibungen zu kämpfen. Hier beginnt eine Abwärtsspirale, denn das Abdriften in Extreme macht es den Menschen schwerer zusammenzuhalten.
Welche Rolle spielen Soziale Medien beim Auseinanderdriften der Gesellschaft in den USA?
Die Sozialen Medien haben den Prozess verstärkt, ohne dass man bei Ihnen den Ursprung vermuten darf. Die amerikanische Bevölkerung kommuniziert viel über die Sozialen Medien, weil es an attraktiven Gegenangeboten wie Qualitätsjournalismus fehlt. Medien wie die New York Times oder die Washington Post sind Nischenphänomene, jeder halbwegs gute YouTuber hat in den USA mehr Reichweite. Hierin liegt wieder das gleiche Problem: Es fehlt den Menschen an gut recherchierten, ausgewogenen und kritischen Informationen, die einen faktenbasierten Diskurs ermöglichen. Das können die Sozialen Medien nicht leisten und wer sich nur hier informieren kann, läuft Gefahr, mindestens einseitig informiert zu werden.
Steht das unserer Gesellschaft in der Zukunft auch bevor?
Nein, weil wir eine Grundordnung haben, die das abfängt. Wir haben eine resiliente Gesellschaft, 150 Jahre sozialdemokratische Innovationen, wir haben Versicherungen, Arbeitslosengeld, Sozialleistungen, Mutterschutz. Unsere Gesellschaft hat eine ganz andere Ausgangsposition als die in den USA, nämlich, dass wir nicht auf uns zurückgeworfen sind als Einzelne. Da gibt es natürlich Ausnahmen, aber gesamtgesellschaftlich trifft das zu.
Wie können wir dafür sorgen, dass das auch in Zukunft so sein wird?
Wir sprechen zum Beispiel zu wenig über die Rolle von Kindern im politischen Prozess als Akteure und als jene Gruppe, für die wir das politisch-ökonomische System stabil halten müssen. Wir reden so viel über die Bedeutung des Klimawandels, weil wir schon heute die Grundrechte der nächsten Generation absichern müssen. Das muss auch bei anderen Themen passieren, zum Beispiel beim Rentensystem oder dem Mediensystem. Wir müssen der nächsten Generation eine politisch-kommunkative Ordnung überlassen, die es ihr ermöglicht, auch in 50 Jahren noch gute Entscheidungen zu treffen. Das ist eine Verpflichtung, die wir haben, um sicherzustellen, dass unsere Kinder auch noch morgen in einem Land leben, das durch Zusammenhalt und respektvollen Umgang miteinander geprägt ist.