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Es ist Mitte November, draußen mischt sich der erste Schnee des Winters als grauer Schleier unter den Regen. Potsdam zeigt sich an diesem Dienstagvormittag von seiner trüben Seite. Drinnen, im gläsernen Schwarzschildhaus des Leibniz-Instituts für Astrophysik, ist es heller. Wir gehen mit Noam Libeskind in sein Büro am Ende des Flurs im ersten Stock. In der Ecke steht ein Fahrrad, auf dem Schreibtisch stapeln sich Fachbücher und Papiere. Lass uns woanders hingehen. Hier sind die Wände so hellhörig, dass wir die anderen stören. Zuerst geht es noch in die kleine Küche gegenüber vom Konferenzraum und wir kümmern uns um Kaffee – Milch ist heute leider keine da. Noch in der Kaffeeküche legt Noam Libeskind begeistert los: Ich freue mich über jede Gelegenheit, um über das Universum zu sprechen. Dann haben wir den Platz für unser Interview gefunden.

LEIBNIZ Herr Libeskind, wo befinden wir uns jetzt?

NOAM LIBESKIND Wir sind am Leibniz-Institut für Astrophysik, in Potsdam, mitten in Brandenburg, in Deutschland, in Europa, auf der Erde – unserem Zuhause im Kosmos. Die Erde selbst ist Teil des Sonnensystems, das wiederum in einem äußeren Spiralarm unserer Galaxie liegt, der Milchstraße. Diese gehört zur Lokalen Gruppe, einer kleinen Ansammlung von Galaxien, darunter unsere Nachbarin Andromeda. Gemeinsam leben sie in den Vororten des Virgo-Haufens, eine Gruppe von etwa 2.000 Galaxien, die durch ihre Schwerkraft miteinander verbunden sind. Aber es geht noch größer: Der Virgo-Haufen ist Teil einer Superstruktur, die bislang als Laniakea bezeichnet wurde. Aber wir haben herausgefunden, dass es einen noch größeren Superhaufen gibt, dem wir angehören: Shapley.

Sie haben mit Ihrem Team eine Karte erstellt, um diese Strukturen im Universum abzubilden. Wie macht man sowas?

Wir haben die Expansion des Universums eingefroren. In der Realität geht das natürlich nicht, weil sich das Universum ständig und überall ausdehnt. Aber wenn wir in unseren Berechnungen annehmen, dass diese Expansion stillsteht, können wir auf einer Karte sichtbar machen, wie sich die gesamte Materie, also Sterne, Planeten, Sonnen und unsere eigene Galaxie, bewegt – allein unter dem Einfluss der Gravitation. Manche Regionen sind besonders massenreich. Sie ziehen ganze Galaxien an. Genau solche Regionen wollten wir finden.

Portrait Noam Libeskind
Foto AIP

NOAM LIBESKIND

ist Astrophysiker am Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam und Leiter der Arbeitsgruppe Kosmographie und großräumige Strukturen.

Die Karte deckt 56.000 Galaxien ab – das ist eine unvorstellbare Größe.

Wir wissen, dass Hunderte von Milliarden Galaxien existieren. Dagegen sind 56.000 Galaxien, die wir tatsächlich untersuchen können, sehr wenig. Aber irgendwann hast du so viele Galaxien untersucht, dass eine weitere auch nicht viel mehr Neues sagt. Über die 56.000 Galaxien bekommen wir einen ziemlich guten Eindruck davon, wie sie sich durch das Universum bewegen. Immerhin deckt unsere Karte einen Bereich von etwas über einer Milliarde Lichtjahren ab.

Wie stellt man sich eine Milliarde Lichtjahre vor?

Das ist wirklich sehr schwierig. Ich erkläre es immer so: Fang an zu zählen. Wenn jede Zahl einer Sekunde entspricht, dann bräuchte man elf Tage, bis eine Million erreicht ist. Um bis zu einer Milliarde zu zählen, braucht man 31 Jahre. 11 Tage oder 31 Jahre – das ist ein großer Unterschied. Und das Licht braucht allein 100.000 Jahre, um von einem Ende der Milchstraße zum anderen zu gelangen. Ehrlich gesagt: Ich bin zwar Mathematiker und arbeite mit Zahlen, aber ich verstehe diese Dimensionen nicht besser als du. Auch für mich ist das sehr abstrakt.

Sie sind ja nicht der Erste, der das Universum kartiert. Waren die bisherigen Karten nicht ausreichend?

Ich zeige Ihnen mal eine berühmte Aufnahme: das Hubble Deep Field. Sie zeigt einen winzigen Ausschnitt des Himmels in erstaunlicher Tiefe. Jeder einzelne Punkt markiert eine ganze Galaxie. Einige sind etwa fünf Milliarden Jahre alt, andere neun. In diesem einen Bild sieht man sozusagen die gesamte Geschichte des Universums. Ich finde es wunderschön, ich könnte ewig weiter darüber reden. Aber das, was es zeigt, macht nur einen winzigen Bruchteil der Masse des Universums aus. Der weitaus größte Teil besteht aus sogenannter Dunkler Materie und Dunkler Energie. Sie sind für uns unsichtbar, selbst wenn wir Teleskope benutzen, die nicht auf sichtbares Licht angewiesen sind und Radio-, Röntgen-, oder Infrarotstrahlung auffangen. Mit traditioneller Beobachtung bilden wir also nur einen winzigen Teil des Universums ab. Für mich ist das völlig unzureichend.

Das Hubble Ultra Deep Field in einer Aufnahme von 2006. Bild NASA, ESA, S. BECKWITH (STSCI) & HUDF-TEAM

Was ist Dunkle Materie genau?

Wenn ich das wüsste, würde ich auf jeden Fall den Nobelpreis gewinnen. Einfach gesagt: Wir wissen es nicht, aber wir verstehen ziemlich gut, wie sie sich verhält: Sie ist unsichtbar und leuchtet nicht. Sie wirkt nur durch Gravitation und übt eine Anziehungskraft auf andere Objekte wie Galaxien aus. Nur deshalb wissen wir, dass es Dunkle Materie geben muss. Um das etwas anschaulicher zu machen: Wenn ich eine unsichtbare Gaswolke untersuchen möchte, kann ich sie mit einem Laser durchleuchten. Das Licht reagiert mit den Atomen in der Gaswolke und macht sie sichtbar. Wenn ich den Laser auf Dunkle Materie richte, passiert nichts, Null. Stattdessen schauen wir uns die Bewegungen von Galaxien an und messen die Anziehungskraft. Diese Gravitation kann nur von Dunkler Materie ausgehen. Durch diesen Umkehrschluss können wir tatsächlich kartografieren, wo sich die Dunkle Materie befindet. 

Galaxien bewegen sich wie Korkenzieher in Richtung massenreicher Regionen durch das Universum.

Können Sie uns erklären, was man auf der neuen Karte sieht?

Die Karte zeigt, wie sich Galaxien aufgrund der Anziehungskraft der Dunklen Materie durch das Universum bewegen. Das, was aussieht wie Flüsse sind sogenannte Filamente. Entlang dieser Filamente bewegen sich die Galaxien. Sie bewegen sich nicht nur im Kreis, sondern in der Form eines Korkenziehers in Richtung massenreicher Regionen. Wo die Linien sehr dicht sind, ist viel Dunkle Materie. In diesen Bereichen ist die Anziehungskraft so groß, dass viel Masse quasi hineinfällt. Es gibt aber auch richtige »Voids«, in denen nichts ist – oder nur sehr wenig.

Dunkle Materie verhält sich also ähnlich wie Wasser, das von Bergen wegfließt und sich in Tälern sammelt?

Ja, in gewisser Weise erstellen wir eine topografische Karte des Universums. Im Grunde finden wir einfach die Bereiche, in denen sich Galaxien stärker in das eine oder in das andere Tal hinabbewegen – nur sprechen wir von Becken statt von Tälern. Und dann gibt es so etwas wie Wasserscheiden: Hier gibt es nichts, das Galaxien anzieht. Es herrscht so etwas wie Schwerelosigkeit. Solche Regionen begrenzen die Becken.

Darstellung der Verteilung der Materie im lokalen Universum entlang welcher Bahnen sich die Galaxien bewegen.
Die neue Karte der großräumigen Vernetzung von Galaxien-Superhaufen in unserem Universum. Bild A. VALADE ET AL. 2024

Was hat Sie bei den Ergebnissen am meisten überrascht?

Eines der überraschendsten Resultate war, dass der erst 2014 entdeckte Laniakea-Superhaufen höchstwahrscheinlich gar nicht existiert, sondern selbst nur ein Teil des noch größeren Shapley-Superhaufens ist. Vorher war Laniakea eigentlich alles, was wir beobachten konnten. Jetzt haben wir immer mehr Daten zur Verfügung und entdecken noch größere Strukturen. Die Frage ist, wenn wir in zehn Jahren zu diesem Gespräch zurückkommen und in der Zwischenzeit noch weiter entfernte Galaxien beobachtet haben, existieren dann noch größere Strukturen? Das ist die große Frage, auf die wir noch keine Antwort wissen.

Warum formt Dunkle Materie überhaupt diese Strukturen?

Die Materie war nie gleichmäßig verteilt. Schon kurz nach dem Urknall gab es an manchen Orten mehr Materie als an anderen. Und wo mehr Materie ist, da ist auch mehr Gravitation. Ich sage manchmal, die Schwerkraft ist die ultimative kapitalistische Kraft: Sie macht die Reichen reicher und die Armen ärmer. Nur geht es eben nicht um Geld, sondern um Materie. Regionen, die ohnehin schon sehr dicht sind, werden noch massiver auf Kosten von Regionen, die sich entleeren. Die Verwerfungen, die dadurch entstehen, sehen wir auf der Karte. Hinzu kommt, dass wir vermuten, dass die Dunkle Materie kalt ist und sich zum Beispiel langsamer als Lichtgeschwindigkeit bewegt. Dadurch kann sie sich verklumpen und Strukturen formen: Klumpen von der Größe der Erde oder des Jupiters, also Dunkle Planeten, aber auch Strukturen von der Größe der Sonne, von Galaxien, von Superhaufen.

Welche Bedeutung hat Ihre Karte für die Astronomie?

Uns Astronomen treibt die Frage um, wie schnell sich das Universum ausdehnt. Durch die Messung der großräumigen Strukturen kommen wir dieser Frage näher. Außerdem prüfen wir, ob Einstein recht hatte. Er macht eine sehr klare Vorhersage, wie stark die Schwerkraft sein sollte und mit unserer Methode können wir seine Gravitationstheorie prüfen. 

Traditionelle Beobachtungen sind für mich völlig unzureichend.

 

Die Route von "the Residencia", dem Gästehaus, zum ESO's Paranal Observatory mit Blick auf die Milchstraße.
Die Milchstraße über dem Very Large Telescope in Chile. Foto ESO/B. TAFRESHI
Galaxie "Messier 101" aufgenommen mit dem Hubble Weltraumteleskop
Galaxie Messier 101, auch als »Feuerradgalaxie« bekannt. Bild ESA & NASA

Warum haben Sie eine Karte entworfen, wenn sie doch nirgendwohin führt?

Ich glaube, wir Menschen wollen immer wissen, wo wir sind. Um das herauszufinden, haben wir auch schon immer die Sterne benutzt. Entweder ganz praktisch, also: Wohin steuere ich mein Schiff? Oder auf der Metaebene: Was sind Sterne und warum gibt es die Erde? Karten regen unsere Fantasie an. Egal, ob es eine Landkarte ist, auf der man als Kind Timbuktu entdeckt, oder eine Sternenkarte, auf der man verschiedene Tierkreiszeichen sieht. Ein Grund, warum mir diese Arbeit Spaß macht: Ich kann diese Fantasie auf den Weltraum richten.

Wenn ich nun aber doch wissen will, wohin wir uns bewegen?

Auf der großen Skala bewegen wir uns in Richtung des Shapley-Superhaufens. Genauer gesagt: Wir sind auf Kollisionskurs mit Andromeda, unserer Nachbargalaxie. Bis zum Zusammenstoß wird es aber noch sehr lange dauern – einige Milliarden Jahre.

Und bis dahin schauen Sie weiter in den Nachthimmel und geben unserem Universum Struktur?

Wenn ich hier in Potsdam in den Nachthimmel schaue, sehe ich nur Wolken und Lichtverschmutzung. Das macht mir keinen Spaß. Aber ich hatte schon öfter die Möglichkeit, an einen sehr dunklen Ort zu gehen. Zum Beispiel durfte ich einmal Beobachtungen am Very Large Telescope in der Atacama-Wüste in Chile durchführen. Wenn man gegen 4 Uhr nachts mit den Beobachtungen fertig ist und rausgeht, ist es wirklich stockdunkel. Da fiel mir auf, dass ich Schatten sah, es schien aber kein Mond, die Sonne war noch nicht aufgegangen. Und dann habe ich begriffen: Die Milchstraße leuchtet hier so hell, dass ihre Sterne diese Schatten werfen! Das war eine der unglaublichsten Erfahrungen meines Lebens. Der Himmel war so hell, dass ich fast das Gefühl hatte, man könnte das Universum berühren. In so einem Moment geht es mir wie wohl jedem anderen Menschen. Ich dachte: Oh mein Gott, wir sind so winzig und das Universum ist so groß.

Copyright Titelbild: ESO/WFI (Optical); MPIfR/ESO/APEX/A.Weiss et al. (Submillimetre); NASA/CXC/CfA/R.Kraft et al. (X-ray)

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