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LEIBNIZ: Herr Sabrow, sind Sie nervös, wenn Sie an die Bundestagswahl denken?

MARTIN SABROW Ja, ich bin schon nervös. Friedrich Merz hat zwar nochmal bekräftigt, dass er sich weigert, mit der Rechten zusammenzuarbeiten. Das scheint die akute Gefahr wieder etwas einzudämmen. Aber ich sehe uns auf einer Rutschbahn: Wir sind nicht nur in Europa umgeben von Staaten mit rechtspopulistischen Regierungen oder Regierungsbeteiligungen. Die Revolverdiplomatie der USA bricht alle Regeln, die politisches Handeln in demokratischen Staaten bislang ausgemacht haben. Der Krieg in der Ukraine lässt uns über Panzermodelle und Haubitzen diskutieren – und über eine ganz neue Definition von Krieg und Frieden. Unser liberales Gesellschaftsmodell rutscht in die Defensive, stattdessen haben rechte Denkansätze Konjunktur – in einer Weise, die ich mir in den 35 Jahren seit der Zeitenwende von 1989/90 nicht hätte vorstellen können.

Viele Menschen stellen sich gerade die Frage: Ist die Situation jetzt nicht so, wie sie 1933 war? Was antworten Sie als Zeithistoriker?

Auf der großen Berliner Demonstration Ende Januar 2024 vor dem Reichstag waren Plakate zu lesen, auf denen stand: Es riecht verdammt nach '33! Und ich stand da und dachte: Nein, es riecht nicht nach '33. Es gibt ein Gefahrenpotenzial, aber das muss man auf einer anderen Skala einordnen. Demokratie ist keine feste Größe, sondern sie ist in Bewegung, wie alles in der Geschichte. Sie muss Bewährungsproben bestehen. Damit wir einschätzen können, wie schwierig die aktuelle Bewährungsprobe ist, sind historische Vergleiche natürlich hilfreich. Auch der Bezug zu '33 kann hilfreich sein. Aber ich wehre mich dagegen, bei jeder Gelegenheit Alarm zu schlagen, dass die Bundesrepublik durch einen neuen Hitler in Frage gestellt wird. Wenn wir das nämlich zu früh und zu häufig machen, nutzt sich die Warnung ab und führt möglicherweise zum Gegenteil des Gewünschten – indem sie nämlich der rechten Bedrohung eine Stärke zuschreibt, die sie gerne hätte, aber bei weitem nicht hat.

Der Zeithistoriker Martin Sabrow. Foto ZZF POTSDAM/ANDY KÜCHENMEISTER

MARTIN SABROW
ist Senior Fellow am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Sprecher des Leibniz-Forschungsverbundes »Wert der Vergangenheit«.

Die NSDAP ist 1933 auch deshalb an die Macht gekommen, weil die Konservativen die Partei unterschätzt haben. Sie sind eine Koalition eingegangen, in der Hitler schließlich Reichskanzler werden konnte.

Ja, und weil sie Hitler im Verein mit der Kamarilla um Reichspräsident Hindenburg in den Regierungssattel hoben. Dazu wäre es allerdings vielleicht schon früher gekommen, wenn die SPD nicht – jenseits ihrer Koalition mit der Zentrumspartei und der Deutschen Demokratischen Partei – auch mit der rechtsstehenden Deutschen Volkspartei sehr pragmatisch zusammengearbeitet hätte, um die Republik zu retten. 1932 setzte sie sich sogar für die Wiederwahl des Monarchisten Hindenburg ein, um Hitler zu verhindern.

In Weimar gab es also keine Brandmauer gegen rechts?

Die Weimarer Republik taugt hier als Vergleichsgegenstand überhaupt nicht. Die einzige wirkliche »Brandmauer«, die damals allerdings noch nicht so hieß, verlief zwischen der radikalen und der gemäßigten Linken. Sie war schließlich mitverantwortlich für die Schwäche der Weimarer Republik: Die rechtsgerichteten Gegner profitierten von dieser Uneinigkeit nicht nur, sondern besaßen in der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) auf der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums einen Verbündeten im Kampf gegen den Weimarer Staat.

Gab es in der frühen Bundesrepublik politische Brandmauern?

Es gab in erster Linie eine Brandmauer gegenüber der KPD. Sie bildete das Fundament des antitotalitären Konsenses im Kalten Krieg, weil die KPD mit der SED, der Staatspartei der DDR, verbunden wurde und als westdeutscher Ableger des Ostblocks im Kalten Krieg galt. Diese Brandmauer spiegelte das Selbstverständnis der frühen Bundesrepublik. Die KPD wurde von den übrigen Bundestagsparteien geächtet und 1956 verboten, aus eher fadenscheinigen Gründen.

Kundgebung für Demokratie und Vielfalt in Berlin
Plakat auf einer Kundgebung in Berlin am 16. Februar 2025. Foto PICTURE ALLIANCE/MATTHIAS WEHNERT/GEISLER-FOTOPRESS

Kommunisten saßen dann erst wieder nach 1990 im Bundestag. Wie ist man denn nach der Wiedervereinigung mit den früheren SED-Mitgliedern in der PDS beziehungsweise Linkspartei umgegangen?

Auch hier hielt man sich zunächst an eine Brandmauer, den Unvereinbarkeitsbeschluss, der allerdings schon bald gebrochen wurde: 1994 durch eine informelle Zusammenarbeit zwischen SPD und PDS in Sachsen-Anhalt und vier Jahre später durch eine erste rot-rote Koalition in Mecklenburg-Vorpommern. Seither lebte die Brandmauer vor allem in der »Rote-Socken-Kampagne« der Unionsparteien weiter. Im Nachhinein betrachtet war das lächerlich: Natürlich gab es in der PDS viele Altkader, die der DDR nachtrauerten. Aber man unterschätzte damals, dass die Reformkommunisten um Gregor Gysi und Hans Modrow durchaus bereit waren, sich mit dem siegreichen System zu arrangieren. Ich habe in Brandenburg eindrücklich erlebt, wie ernsthaft manche Mitglieder der PDS mit ihrer eigenen Vergangenheit gerungen haben. Und ich habe über die Bereitwilligkeit nachgedacht, mit der die frühe Bundesrepublik die einstigen Nazieliten integriert hat. Mittlerweile ist diese Brandmauer abgetragen - zum Besseren der Bundesrepublik in der Gegenwartskrise. Größtenteils muss man allerdings sagen, denn es gibt absurde Nachwehen: So macht die CDU in Thüringen Front gegen die Linkspartei unter Bodo Ramelow, geht aber unbefangen eine Koalition mit dem Bündnis seiner einstigen Parteifreundin Sahra Wagenknecht ein.

Und gegenüber rechten Parteien, gab es da jemals Brandmauern?

Da muss man unterscheiden. Gegenüber verfassungsfeindlichen Parteien wie der Deutschen Reichspartei und vor allem der Sozialistischen Reichspartei gab es Brandmauern, die nie eine Partei verletzt hat – auch die CDU/CSU nicht. Mit der gemäßigt nationalistischen Deutschen Partei hingegen haben die Konservativen ab 1957 sogar zusammen regiert und sie geradezu aufgesaugt: 1961 löste sich die Deutsche Partei auf. Ganz im Sinne von Franz-Josef Strauß, der forderte, dass es im Bundestag keine demokratisch legitimierte Partei rechts von der CDU/CSU geben dürfe.

Nun sitzt rechts von der CSU die AfD – und sie ist demokratisch legitimiert: In Ostdeutschland mobilisiert sie bis zu 30 Prozent der Wählerinnen und Wähler. Kann man die Zusammenarbeit mit ihr trotzdem ablehnen?

Die AfD ist formaldemokratisch legitimiert, aber nicht wertedemokratisch. Wenn wir einen normativen Demokratiebegriff zugrunde legen, der von den Werten des Grundgesetzes und der Europäischen Union ausgeht, ist eine Ablehnung sogar zwingend geboten. Allerdings versammelt sich hinter der AfD gegenwärtig ein Viertel bis ein Drittel der deutschen Wählerschaft. Wenn man versucht, sie bedingungslos auszugrenzen, könnte das systemische Sprengkraft entfalten. Was die Zusammenarbeit mit der AfD angeht, würde ich deshalb nicht die Kategorien »demokratisch« oder »undemokratisch« anwenden. Ich würde unterscheiden zwischen moralischer Ächtung und politischer Pragmatik.

Ich würde unterscheiden zwischen moralischer Ächtung und politischer Pragmatik.
 

Wir dürfen dem Rechtspopulismus nicht die Entscheidung überlassen, was auf unserer Agenda auftaucht und was nicht.

Können Sie das kurz ausführen?

Man kann es niemandem zumuten, mit einem politischen Zusammenschluss von Menschen zusammenzuarbeiten, die sich in so herabwürdigender Weise aufführen wie die AfD – in den Parlamenten wie auf der Straße. Nun besteht die AfD allerdings nicht nur aus den aggressiven und verächtlichen Verlautbarungen ihrer Parteispitzen. Auf dem Land, in Ostdeutschland, aber auch in Bayern und Baden-Württemberg ist sie präsent, wo andere Parteien nicht präsent sind. Und auch wenn es ein vorgeschobenes Argument sein kann, einen Spielplatz bauen zu wollen, so ist es absurd, sich dagegen zu sperren, nur weil dieser Vorschlag von der AfD kommt. Damit wird eine symbolpolitische Brandmauer gezogen, die ich angesichts der Krise unserer Demokratie für kontraproduktiv halte. Die AfD verdient konsequente moralische Ächtung, weil sich mit ihr und in ihr ein Politikverständnis etabliert hat, das den Normen des Grundgesetzes widerspricht und vielfach auch der Menschlichkeit des politischen Handelns ins Gesicht schlägt. Auf kommunaler Ebene hingegen besteht häufig ein faktischer Zwang zu einem pragmatischen Umgang, um politisch handlungsfähig zu bleiben und auf längere Frist auch den Rechtspopulismus zurückzudrängen. Sonst geben wir ihm die Chance zu entscheiden, was auf unserer Agenda auftaucht und was nicht.

Demonstration gegen Rechts in Berlin
Großdemo »Demokratie verteidigen: Zusammen gegen Rechts« am 21. Januar 2024 in Berlin. Foto PICTURE ALLIANCE/SEBASTIAN RAU/PHOTOTHEK

Was würden Sie also den wertedemokratischen Parteien raten?

Wenn bei der Bundestagswahl ein Viertel der Parlamentssitze an die AfD geht und damit nicht für Koalitionen zu Verfügung steht, müssen die wertedemokratischen Parteien ihre programmatische Differenzen weiterhin hintanstellen, auch wenn dies der Erkennbarkeit ihrer unterschiedlichen Profile nicht guttut. Namentlich die SPD würde in einer künftigen Koalition unter fortgesetzter Abnutzung leiden. Vor allem aber brauchen wir Politikperspektiven, die sich auf demokratische Stärken und Werte besinnen. Die Brandmauer muss inhaltlich statt symbolpolitisch gebaut sein.

Aus welchen inhaltlichen Bausteinen sollte eine solche Brandmauer bestehen?

Sie besteht aus politischen Konzepten, die dem demokratischen Gedanken Ehre eintragen und dem Rechtspopulismus entgegenstehen: das Beharren auf der Bedeutung des Klimaschutzes für die globale Zukunft, die Verbindung von Steuerung und Menschlichkeit in der Migrationspolitik, das Beharren auf einer Politik des Mitnehmens statt des Ausgrenzens, das Bekenntnis zur demokratischen Liberalität statt zur autoritären Illiberalität. Das wird die AfD auf kurze Sicht nicht schwächen, weil wir gerade weltweit einen Wandel des Zeitgeistes erleben, der den demokratischen Ausgleichsgedanken so stark in die Defensive drängt. Aber die Krise dieses Gedankens ist nicht sein Untergang, sondern eine Bewährungsprobe. Es ist unsere Aufgabe, sie mit Selbstvertrauen und Gelassenheit zu überstehen.

Was können wir Wählerinnen und Wähler tun?

Zuerst können wir uns eingestehen, dass unser Land sich in der Zeit der Konsensdemokratie zu sehr daran gewöhnt hat, Politik als Lieferdienst zu verstehen: Ist die Rente zu niedrig, hat Scholz nicht geliefert. In der Zeit der großen politischen Auseinandersetzungen der Bonner Jahre hätte es geheißen:
Ist die Rente zu niedrig, dann lasst uns kämpfen, dass sie höher wird. Die Rückkehr zu einem etwas stacheligeren Modus des Politischen, den wir zuletzt erlebt haben, sollten wir begrüßen. Es lässt sich Kraft daraus schöpfen, dass wir nach eher unpolitischen Jahrzehnten nun wieder erleben, worauf es eigentlich ankommt: auf uns selbst und das tätige Bekenntnis zu unserer Art, miteinander zu leben. Sie ist nicht selbstverständlich, sondern schutzbedürftiger, als es nach 1990 für Jahrzehnte schien.

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