Der Weizen ist – aus Sicht des molekulargenetischen Laien – ein einfaches Ding: Aus der Erde wächst ein Halm mit ein paar Blättern, obenauf sitzt eine Ähre, und sie trägt die begehrten Körner. Der Mensch dagegen: welch ein feinmechanisches Wunderwerk der Evolution! 200 Knochen, 650 Muskeln, knapp 80 Organe. Aus eigener Kraft fortbewegen kann er sich auch noch, Feuer machen, Staaten bilden, zum Mond fliegen. Logisch, dass auch sein Genom, also das in jedem Zellkern gespeicherte Gesamtpaket seiner Erbinformationen, außerordentlich komplex ist. Komplexer jedenfalls als das des Weizens. Oder?
Nils Stein lacht leise, als höre er diese Frage nicht zum ersten Mal. Dann holt er Luft und stellt ein paar Sachen klar. Das menschliche Genom ist drei Milliarden Basenpaare groß, das des Weizens 17 Milliarden.
Basenpaare sind die Grundeinheit der Genetik, grob vergleichbar den Bits in der Informatik. Das Weizengenom enthält etwa die Datenmenge, die ein vier Gigabyte großer USB-Stick speichert. Aber es sei, sagt Stein, aufgebläht mit repetitiver DNA, also mit vermeintlich nutzlosen Abfolgen von Basenpaaren, die sich selbst vervielfältigten. Die vielen Wiederholungen machen es unübersichtlich.
Und schließlich enthalte das Genom des Weizens einen sechsfachen Chromosomensatz, während das des Menschen nur aus einem doppelten Satz bestehe (Chromosomen sind meist x-förmige Gebilde, die einen aufgewickelten DNA-Strang enthalten).
Der Biologe leitet die Arbeitsgruppe »Genomik Genetischer Ressourcen« am Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben bei Magdeburg. Er war maßgeblich daran beteiligt, die Genome mehrerer Getreidearten zu sequenzieren, als erstes das der Gerste. Sequenzieren bedeutet, den unendlich winzigen DNA-Strang so zu manipulieren, dass sich die Abfolge der mehreren Milliarden Basenpaare darauf ermitteln lässt. Bei einer befruchteten menschlichen Eizelle bestimmt diese Reihung beispielsweise darüber, ob das Kind blaue oder braune Augen haben wird – bei Getreiden legt sie – neben zahllosen weiteren Eigenschaften – fest, ob bestimmte Pilze der Pflanze schaden oder ergiebige Ähren an ihr heranwachsen.
![Porträt Nils Stein](/fileadmin/_processed_/6/8/csm_8624_b007de9f36.jpg)
Das Genom enthält den Code des Lebens
, sagt Stein. Und dieser Code sei bei Getreidepflanzen eben deutlich länger als beim Menschen. Bei der Sequenziertechnik, die uns in den 2000er Jahren zur Verfügung stand, spielte die Genomgröße eine wichtige Rolle – je größer, desto teurer.
Das Vorhaben, den Code der Gerste zu knacken, lässt sich als Mammutaufgabe, als Gigaprojekt bezeichnen. Wobei Stein, ein sachlicher Typ mit einem akkuraten Haarschnitt, in dessen aufgeräumten, weitgehend grau und schwarz möblierten Büro wenig von der Arbeit ablenkt, derlei Superlative meidet. Aber auch er sagt: Wir standen vor so einer unwahrscheinlich großen Aufgabe, dass ein einzelnes Institut dafür nie genügend Fördermittel hätte einwerben können.
Die internationalen Forschungsteams, die bis 2001 das menschliche Genom entschlüsselten, hatten es vergleichsweise leicht, an Geld zu kommen: Ihre Arbeit rührte an das Selbstverständnis des Menschen. Immerhin ist das Genom so etwas wie die Blaupause unseres Organismus. Sie barg auch die Hoffnung, künftig Krebs oder andere vom Erbgut beeinflusste Krankheiten wie Diabetes oder Parkinson besiegen zu können (diese Hoffnung hat sich nicht bestätigt, aber die Kenntnis des Genoms hat dazu beigetragen, bessere Therapien zu entwickeln).
Die Gerste kann solche Gefühle nicht wecken
, sagt Stein. Wir mussten, als wir 2005 anfingen, ein internationales Konsortium aus 20 Instituten bilden, um überhaupt eine Chance zu haben, die Sequenzierung zu finanzieren.
Die Entscheidung für die Gerste – und gegen den für die Ernährung der Menschheit viel bedeutenderen Weizen – fiel also auch aus Kostengründen. Ihr Genom ist weniger komplex: Wie das Erbgut des Menschen besteht es nur aus zwei Chromosomensätzen und enthält lediglich ein Drittel der Basenpaare des Weizengenoms. Außerdem war sie zu diesem Zeitpunkt das Getreide, das die Molekularbiologie am gründlichsten untersucht hatte.
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Damals hatten wir noch nicht die Rechenkapazität, um das Gerstengenom mit der sogenannten Shotgun-Methode zu sequenzieren
, sagt Stein. Bei dieser Methode wird der DNA-Strang in unzählige Schnipsel aufgeteilt, die Sequenziermaschinen einzeln entschlüsseln. Anschließend puzzelt eine bioinformatische Software die Schnipsel eigenständig wieder zusammen. Stattdessen mussten wir erst einmal mehrere Genombibliotheken erstellen lassen, von denen jede um die 60.000 US-Dollar kostete.
Solche Bibliotheken enthalten DNA, die mithilfe von Bakterien kopiert wurde. Aus ihnen konnte Steins Team eine physikalische Karte des Gerstengenoms erstellen, die die Entfernungen zwischen einzelnen Genen abbildet. Vier technische Assistenten und zwei Wissenschaftler damit mehrere Jahre lang beschäftigt.
Erst als diese Arbeit um 2010 vollendet war, konnten die Partnerinstitute damit beginnen, Fördermittel für die eigentliche Sequenzierung einzuwerben. Immerhin konnten wir dafür inzwischen die Shotgun-Methode nutzen
, sagt Stein. Das hat die Arbeit beschleunigt.
Manche Institute taten sich zusammen, um gemeinsam eins der sieben unterschiedlichen Gersten-Chromosomen zu entschlüsseln; andere konzentrierten sich auf die Analyse bereits sequenzierter Abschnitte.
![Foto von Getreide in Papptellern](/fileadmin/_processed_/f/5/csm_7880_33da570c08.jpg)
![Foto eines Schranks mit Gläsern voller Getreidekörner](/fileadmin/_processed_/c/9/csm_7979_e53b6150a1.jpg)
2017, nach zwölf Jahren Arbeit, veröffentlichte das internationale Forschungsteam das entschlüsselte Gerstengenom in Nature, der weltweit wohl angesehensten wissenschaftlichen Fachzeitschrift. Schon im Jahr darauf veröffentlichte ein Konsortium, das parallel gearbeitet hatte und an dem Steins Team ebenfalls maßgeblich beteiligt war, das entschlüsselte Genom des deutlich komplizierteren Weizens. Es folgten 2019 Triticale (eine Kreuzung aus Weizen und Roggen), 2021 der Roggen selbst und 2022 der Hafer.
Komplexer Kleber
Gluten ist ein Gemisch aus Proteinen des Weizenkorns. Es sorgt dafür, dass der Teig aufgeht und fluffig wird – aber immer mehr Menschen bekommen Probleme damit: Allergien, Unverträglichkeiten und sogar Autoimmunreaktionen nehmen zu. Mittlerweile betrifft das weltweit etwa ein Prozent der Bevölkerung. Viele vermuten, dass moderne Weizensorten mehr Gluten enthalten als ältere Sorten. Das konnte ein Forschungsteam vom Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München mithilfe von alten Weizensorten aus der Genbank des IPK widerlegen: Der Glutengehalt hängt weniger von der Genetik des Getreides ab, sondern von den Bedingungen, unter denen es angebaut wird. Moderne Weizensorten enthalten tendenziell sogar weniger Gluten als alte Sorten. Auch nach dieser Entdeckung bleibt Gluten ein wichtiges Thema für die Forschung. Es gibt mehr als hundert verschiedene Proteine, aus denen es zusammengesetzt sein kann. Je nachdem, woraus der Mix besteht, kann die Wirkung auf den Organismus unterschiedlich sein. Und dann spielt auch die Verarbeitung von Mehl und Teig eine wichtige Rolle dafür, wie verträglich das Lebensmittel am Ende ist.
Wollen wir einen Rundgang machen?
fragt Stein, nachdem er anderthalb Stunden lang geduldig Auskunft gegeben hat. Der Biologe hat nämlich noch eine zweite Aufgabe am IPK – eine, die erheblich weniger abstrakt wirkt als die Arbeit an Genomen. Stein leitet die Genbank des Instituts, die – so sehr ihr Name an Chromosomen und DNA-Stränge denken lässt – eine vergleichsweise handfeste Angelegenheit ist, eine Art High-Tech-Vorratskammer für Saatgut, in der 151.348 Samenproben von 2.912 Pflanzenarten lagern.
Stein betritt einen schmalen Flur im Erdgeschoss des Instituts, von dem sieben weitere Türen abgehen. Er öffnet einen Wandschrank, reicht einen dick gefütterten Anorak heraus und schlüpft in ein identisches Modell. Der Aufwand wirkt angesichts der gemäßigten Raumtemperatur übertrieben – bis er den unterarmlangen Pressverschluss einer Tür umlegt, auf der »Kühlzelle Nr. 7 – Weizen, Gerste, Mais« steht.
Die Regale in dem schmalen, L-förmigen Raum dahinter reichen bis unter die Decke, 15 Böden pro Regal, darin aufgereiht: Einmachgläser voller Getreidekörner, jedes beschriftet mit einem dreistelligen Code für die Pflanzenart – HOR steht für Hordeum vulgare, also die Gerste – und einer Zahlenkombination, die an die ISBN-Nummern auf Buchumschlägen erinnert. Weil sich Samen am besten bei starkem Frost halten, herrschen in der Kühlzelle 18 Grad unter Null (eine solche Eiseskälte wurde etwa in Berlin zuletzt vor 12 Jahren erreicht).
Die Genbank geht auf die Sammlung eines 1943 gegründeten Instituts zurück, das nach dem zweiten Weltkrieg der Deutschen Akademie der Wissenschaften der DDR eingegliedert wurde. Manche der in ihr gelagerten Samen wurden noch in der Sowjetunion geerntet. Teil der Sammlung sind nicht nur Körner und Kerne von Nutzpflanzen, sondern auch Bucheckern, Eicheln oder Samen von Orchideen, außerdem Muster von Blättern sowie Angaben zu Herkunft und Eigenschaften der jeweiligen Pflanze. Die Genbank dient dazu, Saatgut für die Zukunft zu konservieren. Außerdem kann jeder sie einsehen oder Proben bestellen. Die häufigsten Nutzer sind Forschende und Saatgutzüchter.
Stein führt in weitere Räume; etwa jenen mit den Stickstofftanks, in denen mikroskopisch kleine Sprossspitzen von Kartoffeln, Knoblauch oder Zwiebeln bei 196 Grad unter Null lagern. Bei dieser Temperatur können wir sie endlos lebensfähig halten
, sagt Stein. Zumindest in der Theorie. Die Methode gibt es ja erst seit 50 Jahren.
Im Keimraum testet eine Forscherin, ob die jüngst nachgezüchteten Bohnenkeimlinge kräftig genug sprießen. Im Dreschraum befreit eine Assistentin Korbblütlersamen von der Spreu, im Aufarbeitungsraum beugen sich mehrere Mitarbeiter über Häufchen von Getreidekörnern oder Linsen und trennen die guten von den schlechten.
Und dann gibt es noch die Gewächshäuser und Ackerflächen, die mit 84 Hektar etwa halb so groß sind wie die Hamburger Außenalster. Sie dienen dazu, Pflanzen nachzuzüchten, deren in der Genbank gelagerte Samen bald das Verfallsdatum erreichen. Die Äcker sind im frühen Herbst bereits gepflügt; in den Gewächshäusern aber ranken noch Gurken, Flaschenkürbisse und verschiedene Vertreter der Hülsenfrüchtler den Glasdächern entgegen; ein anderes erfüllt der Duft Dutzender Rosmarinsträucher.
Es ist wirklich nur der erste Blick, der den Anbau von Saatgut samt Verwahrung in Einmachgläsern und das Entschlüsseln von Getreide-DNA als zwei völlig getrennte Aufgaben erscheinen lässt. Denn gewissermaßen stellt die Stofflichkeit der Genbank das Schloss dar, zu dem sequenzierte Genome der Schlüssel sind.
Mit der heutigen Technik dauert es weniger als eine Woche ein einzelnes Genom zu sequenzieren.
Ich halte es für realistisch, dass wir für alle Kulturpflanzenarten einen Katalog der verfügbaren DNA-Vielfalt erstellen können
, sagt Stein. Denn wer ein einzelnes Genom entschlüsselt, lernt zwar viel über das Erbgut einer Art, aber so gut wie nichts über die Variation innerhalb der jeweiligen Spezies. Allein in Deutschland etwa sind über 200 Weizensorten zugelassen. Und jede dieser Züchtungen unterscheidet sich in ihrer DNA von den anderen. Wenn wir diese Vielzahl von Genomen sequenzieren, können wir die verschiedenen Sorten vergleichen und gezielt nach Genen suchen, die Schädlingen besser standhalten oder mehr Ertrag liefern
, sagt Stein. So entstünde ein Pangenom, also ein Katalog der genetischen Vielfalt innerhalb einer einzelnen Art.
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An genau solchen Pangenomen arbeitet er mit seinem Team gerade. Denn anders als in den Pionierjahren ist es heute ein Leichtes, selbst die riesigen Getreidegenome zu entschlüsseln. Mit der heutigen Technik dauert es weniger als eine Woche und kostet keine 5.000 Euro, ein einzelnes Genom zu sequenzieren
, sagt Stein. Im November 2024 veröffentlichte sein Team ein vorläufiges Pangenom der Gerste. Weizen, Roggen und andere sollen folgen.
Wenn die Nutzer der Genbank künftig nicht nur verschiedene Samen bestellen, sondern auch deren Genome vergleichen könnten, würden die sinnlich-stoffliche Welt der leibhaftigen Körner und das Wissen über den Code des Lebens zu einer einzigen, vereinten Sammlung verschmelzen. Schon jetzt führt der Klimawandel dazu, dass bisher optimal an ihren Standort angepasste Sorten nicht mehr mühelos gedeihen. Das in einem solchen Datenschatz gespeicherte Wissen dürfte in Zukunft also wichtiger sein denn je.