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LEIBNIZ Frau Sept, in vielen Regionen Deutschlands suchen die Leute jetzt die Pappnasen raus, gehen auf die Straße und feiern Karneval. Warum machen wir das?

ARIANE SEPT Zum einen ist es natürlich wie bei allen Traditionen: Man macht Dinge, weil man sie immer schon so gemacht hat. Zum anderen ist der Karneval ein wunderbares Beispiel für eine Tradition, die mit viel gemeinschaftlicher Aktivität einhergeht. Denn viele Menschen setzen sich ja nicht einfach heute eine Pappnase auf, sondern sind schon seit Wochen damit beschäftigt, den Karneval vorzubereiten, Kostüme zu basteln oder Wagen zu bauen. Und gerade in kleineren Orten ist das auch ein Grund, sich bei Menschen zu melden, die man vielleicht sonst das Jahr über nicht sieht. Zum Beispiel, weil man weiß: Der hat da so einen Wagen rumstehen, den man jetzt brauchen könnte. Und über den Höhepunkt, den Zug, in manchen Gegenden auch der Spaziergang oder das kleine Fest, kann man sich dann wieder eine ganze Woche unterhalten. Das macht viel mit dem zwischenmenschlichen Umgang.

Man macht also viel mit Menschen, mit denen man nicht unbedingt befreundet sein muss und feiert hinterher zusammen. Welche Funktion hat das für ein Gemeinwesen?

Für ein Gemeinwesen hat das eine ganz wahnsinnig wichtige Funktion. Man begegnet sich ja nicht nur, sondern arbeitet zusammen: an Kostümen, an Wagen – oder auch in Organisationen. In Rheinland-Pfalz fragt man sich zum Beispiel: Wie machen wir das dieses Jahr mit den Möhnen?

Möhnen sind Waschweiber, die früher im Karneval ihre Rollen tauschten und auf einmal das Sagen hatten.

Die gibt es bis heute. Und mitunter sind das im Alltag gar nicht die besten Freundinnen, aber zu Karneval haben sie ein gemeinsames Ziel.

Portrait Ariane Sept
Foto PRIVAT

ARIANE SEPT
ist Professorin für Partizipative Kommunalentwicklung und Gemeinwesenarbeit an der Hochschule München. Bis 2022 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe »Soziale Innovationen in ländlichen Räumen« des Leibniz-Instituts für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner.

Karneval war ja – auch in vielen nicht-christlichen Gesellschaften – eine Zeit, in der Gesellschaftsunterschiede verwischten. In diesen Tagen spielte es keine Rolle, wer Herr ist und wer Knecht, wer König und wer Untertan. Ist es wichtig, ein paar Tage im Jahr zu haben, an denen man nicht drauf schaut, wer jemand ist?

Das sagen zumindest viele Menschen, mit denen ich spreche. Zum Beispiel war ich vor einigen Jahren am Rosenmontag auf Forschungsreise in einem kleinen Dorf in Rheinland-Pfalz. Am Tag zuvor hatte der Karnevalszug stattgefunden – bei wahnsinnig schlechtem Wetter. Trotzdem waren viele Menschen da und am Rosenmontag unterhielt man sich dann eben noch extrem viel darüber. Und etwas, das mir als Außenstehender oft als erstes erzählt wurde, war, dass die Schmalsten und Schwächsten wichtige Rollen im Karneval übernommen hatten. Also der kleine Schüchterne, der sonst nie was sagt, hatte den Zug angeführt und den Haudegen gespielt. Da spielt dieses alte Motiv der Machtumkehrung nach wie vor mit, auch wenn das vielleicht nicht immer so reflektiert wird, wie wir das gerade machen.

Spielt Karneval in Dörfern und kleinen Städten auf dem Land eine andere Rolle als in der in der Großstadt?

Vor allem ist die Wirksamkeit eine andere, schon aufgrund der räumlichen Verteilung. Wenn der Karnevalszug durch ein Dorf mit einer Hauptstraße und zwei kleinen Nebenstraßen läuft, kann ich mich dem nicht entziehen. Selbst wenn ich das eigentlich doof finde, den Karneval hasse und das ganze Brimborium nicht mag. Als Anwohner kann ich nur das Dorf verlassen – aber dann muss ich auch aktiv werden – oder ich bin eben automatisch involviert. Und sei es nur, weil alles zugeparkt ist. Wenn ich dagegen am Kölner Stadtrand wohne, verkleidet sich vielleicht mein Nachbar, aber ich bekomme nicht zwangsläufig etwas vom Chaos in der Innenstadt mit.

Sie haben noch nie in Köln gelebt, sonst wüssten Sie, dass es in Köln ganz anders ist, als Sie es jetzt beschreiben.

(lacht) Ich wollte auch gerade sagen: Köln ist ein ganz schlechtes Beispiel.

Welche Rolle spielt es gerade im Februar, wenn es draußen kalt, nass und grau ist, dass man etwas hat, auf das man sich freuen kann?

Das Wetter und die Jahreszeit sind extrem wichtig. Auch, weil viele Dinge, die wir sonst das gesamte Jahr über tun, im Januar und Februar nicht getan werden müssen. Da wird kein Feld bestellt, da muss man sich nicht um den Garten kümmern. Das meiste, was mit der Natur zu tun hat, ruht noch.

Es ist also einmal eine Zeit, in der man sich möglicherweise langweilt. Dann gibt es die christliche Tradition, in der am Aschermittwoch die Fastenzeit anfängt, 46 Tage vor Ostern – oder 40 Tage, wenn man die Sonn- und Feiertage abzieht. Und vor der Fastenzeit macht man dann nochmal ordentlich einen drauf?

Mit Blick auf die Geschichte des Karnevals in Italien wird immer darauf verwiesen, dass man keine christliche Tradition dahinter vermuten sollte, sondern dass es darum ging, den Winter zu verabschieden. Christliche und heidnische Traditionen lassen sich oft schwer auseinanderhalten, aber interessant ist, dass die Menschen bis Ostern auf bestimmte Lebensmittel verzichteten. Deshalb verbrauchten sie diese Vorräte vor Aschermittwoch. Zum Beispiel war es im Februar üblich, nochmal alles zu schlachten, was geschlachtet werden musste. Und dabei fiel natürlich viel Fett an.

Und deshalb isst man heute immer noch Schmalzgebäck?

Genau, man machte alles Mögliche mit diesem Fett, und unter anderem hat man einfach viel frittiert. Das finde ich wirklich interessant: Viele Menschen glauben, man würde fettiges Zeug essen, damit der Alkohol nicht so viel Schaden anrichtet.

Feiernde Frau beim Karneval-Zug, die winkt und Kofetti fliegt in der Luft.
Person beim Karneval-Zug in Teufel Kostüm.

Was ist denn positiv daran, wenn ich kein Karnevalsfan bin und nicht mitfeiern will, dass bei mir die Straße zugeparkt ist? Macht so etwas das Zusammenleben nicht eher schwieriger, als dass es Menschen zusammenbringt?

Das könnte man denken. Oft sind es aber nur sehr wenige Menschen, die nicht involviert sein wollen. Ein weiteres Beispiel aus meiner Forschung: Es ging um ein Dorf, das völlig zerstritten war. Eine Frau hat drei Jahre lang gesagt, sie werde niemals zum Sommerfest gehen. Sie hat sich dann auch drei Jahre lang geärgert, dass alles zugeparkt war. Im vierten Jahr hat sie dann gesagt: Ach jetzt guck ich mir den Spaß aber doch mal an. Ich kann ja jetzt hier auch nicht immer die komische Tante sein. Sie war dann ganz begeistert, weil sie plötzlich festgestellt hat, dass gar nicht nur die üblichen Verdächtigen da waren, die sonst immer im Dorf aktiv sind, sondern da waren auch ganz nette und interessante Menschen. Und so kommt dann eins zum anderen und beim nächsten Mal machen sie vielleicht etwas gemeinsam.

Inzwischen weiß man, dass in Dörfern und kleinen Städten, in denen solche Traditionen gepflegt werden, die Abwanderung geringer ist.

Gibt es eine ideale Länge für Feste? Die meisten sind ein Wochenende lang, der Karneval eine Woche, aber alle haben ein definiertes Ende, irgendwann ist Schluss.

Genau, und es braucht den Schluss, denn sonst geht die Besonderheit verloren. Ein Fest geht ja auch immer mit einer Anstrengung einher und wird als Ausnahmesituation empfunden. Genau das macht seinen Reiz aus: Man arbeitet auf diesen Höhepunkt hin – und dann ist er vorbei.

Dann wird die alte Ordnung wiederhergestellt.

Genau.

Und alles ist wie vorher?

Im Detail dann vielleicht nicht, weil sich vielleicht Menschen nochmal anders begegnet sind. Manche haben sich vielleicht auf dem Sommerfest kennengelernt oder sind beim Karneval zum Liebespaar geworden. Aber für den Ort ist dann wieder Normalität angesagt und man kann mit den Planungen wieder neu beginnen.

Können sich Zugezogene in solche traditionsreichen Feste problemlos integrieren?

Oft sind es sogar Zugezogene, die fast verlorene Traditionen wiederbeleben, zum Beispiel in manchen Dörfern in Ostdeutschland. Aber auch für Menschen, die sich nicht gleich in einem Verein engagieren wollen, sind Feste ein guter erster Andockpunkt. Man hat die Möglichkeit, mit denen, die schon länger dort wohnen, auf niedrigschwellige Art ins Gespräch zu kommen. Inzwischen weiß man, dass in Dörfern und kleinen Städten, in denen solche Traditionen gepflegt werden, die Abwanderung geringer ist. Es macht offenbar einfach mehr Spaß, dort zu leben.

Zum Schluss müssen wir aber nochmal über die sprechen, die das alles ganz furchtbar finden. Es gibt ja nicht nur den Kölner, der in der Vorstadt wohnt und am liebsten die Decke über den Kopf zieht, wenn zu Weiberfastnacht der Straßenkarneval anfängt. Es gibt ja ganz viele Menschen, die mit dieser Form von Enthemmung und kollektiven Betrunkensein nichts anfangen können. Was sagen Sie denen?

Sie haben den Rest des Jahres.

TONSPUR WISSEN

Das Gespräch mit Ariane Sept können Sie in voller Länge im Podcast Tonspur Wissen von Rheinischer Post und der Leibniz-Gemeischaft hören. Für leibniz haben wir es leicht gekürzt und bearbeitet. Im Podcast widmet sich die Journalistin Ursula Weidenfeld aktuellen Themen und Entwicklungen und spricht darüber mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Leibniz-Gemeinschaft. Alle Folgen des Podcasts finden Sie hier.

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