1 · DORNRÖSCHENSCHLAF
Dormanz, abgeleitet vom lateinischen »schlafen«, beschreibt die Fähigkeit von Organismen, ihre Entwicklung zu verzögern, um Wind und Wetter zu trotzen. Diese Lebensformel findet sich bei Pflanzen, Tieren und sogar Mikroorganismen. Die Hauptmerkmale der Dormanz: ein stark reduzierter Stoffwechsel und eine erhöhte Widerstandskraft.
2 · SAMEN
Die Fähigkeit zum Überleben haben besonders Pflanzensamen entwickelt. Bis die Bedingungen zum Wachsen ideal sind, können sie in Warteposition verharren und dabei Hitze, Feuer und Kälte überstehen, Hunderte von Kilometern zurücklegen oder sogar durch den Magen-Darm-Trakt von Tieren wandern. Für die Keimung brauchen praktisch alle Samen nur Sauerstoff und die richtige Temperatur. Denn die benötigten Nährstoffe sind in ihrer Fruchthülle enthalten, die die Samen außerdem vor oxidativen Prozessen schützt.
3 · REKORDHALTER
Den Rekord im Warten auf bessere Zeiten hielt lange die Lotuspflanze mit 1.300 Jahren. Doch dann brachten israelische Forschende einen laut Radiokarbonmethode rund 1.900 Jahre alten Samen einer Dattelpalme zum Keimen, der zu einer einen Meter zwanzig großen Pflanze heranwuchs.
4 · WECKRUF
Ob ein Samen ruht oder zur Keimung bereit ist, wird durch das Gleichgewicht der Pflanzenhormone Abscisinsäure und Gibberellin bestimmt. Ein hoher Gehalt an Abscisinsäure hält die Keimruhe aufrecht, während Gibberellin für die Samenkeimung verantwortlich ist. Bei ruhenden Knospen ist es übrigens ähnlich, denn die Dormanz geht bei ihnen ebenfalls mit einem Anstieg der Abscisinsäure einher.
5 · SCHNELLSTARTER
Kulturpflanzen haben den langen Atem schon früh ausgehaucht, weil man wollte, dass für die Landwirtschaft optimierte Samen nach der Aussaat schnell keimen. Wildpflanzen haben sich diese Eigenschaft bewahrt: Sie können jahrzehntelang im Erdreich ausharren und sichern so ihr Überleben. Im Boden unter unseren Füßen bilden sie eine Art natürliche Saatbank.
6 · SAMENARCHIVE
Auch Genbanken arbeiten nach diesem Prinzip. Sie sammeln Samen, um sie für die Zukunft zu bewahren. Eine der weltweit größten Genbanken beherbergt das Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung. Die Samen von mehr als 150.000 Sorten bleiben dort bei minus 18 Grad Celsius über Jahrzehnte keimfähig. Sicherheitsduplikate aller weltweit gesammelten Samen werden in den internationalen Saatguttresor auf Spitzbergen gebracht.
7 · TIERE
Erinnern Sie sich an die Urzeitkrebse aus dem Kinderexperimentierkasten, die im Salzwasser auf dem Fensterbrett plötzlich lebendig wurden? Zusammen mit Rädertierchen und Strudelwürmern sind sie die Überlebenskünstler im Tierreich. Bei ungünstigen Bedingungen bilden sie hartschalige Wintereier — die Dauereier — und können so lange ausharren. Sind die Bedingungen gut, legen sie sogenannte Sommereier, die sofort und ohne Befruchtung mit der Embryonalentwicklung beginnen.
8 · WASSERFLÖHE
Ein weiteres Beispiel für Dauereier sind Wasserflöhe. Eigentlich vermehren auch sie sich ungeschlechtlich durch Jungfernzeugung: Aus unbefruchteten Eiern schlüpfen genetisch identische Klone der Mutter. In Mangelsituationen, etwa, wenn die Nahrung knapp ist oder der Wasserspiegel sinkt, können die Weibchen jedoch Söhne produzieren, die ihre Eier befruchten — die so zu Dauereiern werden. Ein Teil der Eier sinkt zu Boden und wartet am Gewässergrund auf bessere Zeiten — teilweise jahrhundertelang. Ein anderer Teil steigt an die Wasseroberfläche und wird von Vögeln oder Fröschen in andere Gewässer weitertransportiert.
9 · ZEITKAPSELN
Für die Wissenschaft sind Dauereier ein vielversprechendes Forschungsobjekt, denn mit ihrer Hilfe lassen sich entwicklungsgeschichtliche Prozesse rekonstruieren: Welchen Bauplan gab das Erbgut vor mehreren hundert Jahren vor, und wie hat er sich verändert? Fand eine Anpassung an sich wandelnde klimatische Bedingungen statt? Es ermöglicht aber noch mehr, denn man kann an den geschlüpften Lebewesen alles mögliche messen und beobachten — nicht zuletzt, wie die Tiere einmal aussahen.
10 · BAKTERIEN
Auch Bakterien können Dauerstadien bilden — ein Beispiel sind die Clostridien, die nur in Abwesenheit von Sauerstoff wachsen und das stärkste biologische Gift überhaupt bilden: Botulinumtoxin. Durch Stressbedingungen wie Nährstoffmangel wandelt sich die Clostridienzelle in eine Spore um, die von mehreren Schutzschichten umgeben ist. Sobald die Lebensbedingungen besser sind, verwandelt sie sich von ihrer Überdauerungsform zurück in eine Bakterienzelle.
11 · HOFFNUNG
In einer Zeit, in der Antibiotikaresistenzen weltweit zunehmen, sind Clostridien aber auch Hoffnungsträger für neue Medikamente. Denn sie produzieren nicht nur Gift — sondern auch eine Vielzahl von Naturstoffen, die heilend wirken könnten.
* Die Texte zu den »hoffenden« Tieren und Pflanzen haben wir gemeinsam mit Nadja Neumann vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), Friederike Gawlik vom Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie (HKI) sowie Manuela Nagel vom Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) erstellt.