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Ohne zusätzliche Information sind unsere Fotos schwer zu deuten. Sie zeigen indische Polizisten, die während des ersten Lockdowns 2020 über das Coronavirus aufklären und Passanten überzeugen, wieder nach Hause zu gehen. Ein lokaler Künstler hatte sie mit Kostümen ausgestattet. Die Akteure wollten damit auch jene erreichen, die glaubten, das Virus existiere nicht oder sei weniger gefährlich als behauptet.

LEIBNIZ Herr Sassenberg, schön, dass die Technik mitspielt und kein Computer unseren Videocall sabotiert. Fällt so ein Gedanke an den Aufstand der Dinge und an Geräte, die sich gegen uns verschwören, eigentlich schon unter Verschwörungsgläubigkeit?

KAI SASSENBERG Spannende Frage. Leider fällt mir keine Studie ein, die sich damit beschäftigt hätte. Ich würde es so formulieren: Wenn Sie Ihren Computer anthropomorphisieren, ihn also vermenschlichen, wenn Sie Dingen eine Absicht unterstellen und ihnen die Fähigkeit zuschreiben, Ihr Verhalten zu steuern – dann kommen wir sicher in einen irrationalen Bereich. Mit Verschwörungstheorien hat das aber nichts zu tun.

Und wenn ein Bekannter von mir, der Fußballfan ist, sich zu der Aussage hinreißen lässt: Der ist doch gekauft, der Schiri! Wie schätzen Sie das ein?

Das hat schon eine andere Qualität. Hier kommt ein Denken zum Ausdruck, das mehrere Kriterien erfüllt, mit denen wir Verschwörungstheorien definieren. Aus psychologischer Perspektive ist eine Verschwörungstheorie die Annahme, dass mächtige Personen in geheimer Absprache ein bedeutungsvolles Ereignis herbeiführen, um dadurch Vorteile zu erhalten und möglicherweise anderen zu schaden. Wer Schiedsrichter kaufen kann, hat ausreichend finanzielle Mittel – also Macht. Wer besticht, muss im Geheimen agieren, weil er Gesetze bricht. Und wenn ich um den Sieg betrogen werde, ist das keine Kleinigkeit: Es fühlt sich bedeutungsvoll an.

Foto BETTINA LEUCHTENBERG; ZPID

KAI SASSENBERG

ist Direktor des Leibniz-Instituts für Psychologie (ZPID) und Professor an der Universität Trier. Der Sozialpsychologe erforscht unter anderem, wie sich soziale Einflüsse auf die Verarbeitung von wahren und falschen Informationen auswirken.

Das klingt so, als könnten Sie mit dieser Definition reale Situationen schnell und problemlos einordnen: Verschwörungstheorie – keine Verschwörungstheorie. Ist das immer so eindeutig?

Tatsächlich lässt die Definition einen wichtigen Punkt offen: Handelt es sich nur dann um eine Verschwörungstheorie, wenn die Annahme eindeutig falsch ist? Auf Ihren Freund, den Fußballfan bezogen: Im konkreten Fall liegt er vermutlich falsch, aber es wurden ja tatsächlich schon Schiedsrichter gekauft. Ob solche »wahrscheinlich zutreffenden« Annahmen Verschwörungstheorien sind, diskutieren wir in der Wissenschaft. Diese Differenzierung ist wichtig, das wurde zum Beispiel im Wirecard-Skandals deutlich.

Der Zahlungsdienstleister Wirecard hat die Finanzaufsichten und Kunden mit fingierten Zahlen systematisch betrogen.

Der Skandal wurde von einem Journalisten aufgedeckt. Die Verantwortlichen von Wirecard haben ihn zunächst ganz gezielt bezichtigt, eine Verschwörungstheorie zu verbreiten. Sie wollten ihn unglaubwürdig machen, während seiner Recherche und auch noch nach der Veröffentlichung. Wer versucht, eine reale Verschwörung aufzudecken, fällt nach unserer Definition in die gleiche Kategorie wie ein Verschwörungstheoretiker, der Phantomen hinterherjagt. Hier zeigen sich zwei Probleme: Wie unterscheiden wir das sinnvolle kritische Denken einer mündigen Zivilgesellschaft vom destruktiven Verschwörungsglauben, der uns gesellschaftlich spaltet? Und wie vermeiden wir es, Menschen zu stigmatisieren und zu pathologisieren, sobald sie an eine Verschwörung glauben – auch solche die sich später als korrekt herausstellen?

Tragen wir eigentlich alle einen kleinen Verschwörungstheoretiker in uns?

So weit würde ich nicht gehen. Wir wissen aus der Forschung, dass es eine beträchtliche Zahl von Menschen gibt, bei denen Verschwörungstheorien überhaupt nicht verfangen. Sogar dann nicht, wenn wir es ihnen sehr leicht machen, indem wir ihnen durch ein bestimmtes Framing Brücken bauen. Aber die meisten Menschen haben eine Grundbereitschaft, sich gedanklich auf Verschwörungstheorien einzulassen. Das müssen wir besser verstehen: Woher kommt diese Bereitschaft? Wann entwickelt sie eine gefährliche Dynamik? Die Anhänger von Verschwörungstheorien sind jedenfalls nicht alle psychisch auffällig oder krank. Die Pathologisierung von Verschwörungsglauben ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht (mehr) angemessen.

INDIA-HEALTH-VIRUS

Welche Erklärungen hat die Forschung heute?

Wir untersuchen, welchen Zugewinn Menschen haben, wenn sie sich auf verschwörerische Denkweisen einlassen. Eine wichtige Motivation ist: Sie bekommen Erklärungen für eine sehr komplexe Welt. Erlangen Sinn und Sicherheit durch Verstehen. Menschen ziehen Nutzen daraus, Bedrohungen kontrollierbarer zu machen, weil sie sie scheinbar verstehen. Auch die Freude an Heureka-Momenten korreliert mit Verschwörungsglauben: Es ist erhebend, etwas zu begreifen, das die Sicht auf die Welt nachhaltig verändert. Dazu gibt es noch nicht genug Empirie, aber es erscheint plausibel. Nicht zuletzt ist soziale Distinktion sehr wichtig: »Ich bin anders als die Schlafschafe, ich bin schlauer als der Rest.« Für solche Gedanken sind Narzissten besonders anfällig.

Kann die psychologische Forschung zur Prävention beitragen?

Wir können einigermaßen verlässlich vorhersagen, welche Menschen in bestimmten Kontexten an alternative Erklärungen oder Falschinformationen glauben – wenn wir genug über ihre Grundneigung wissen. Allerdings gibt es methodische Grenzen: Wer Wissenschaft für Unfug hält, der nimmt nicht an wissenschaftlichen Studien teil. Außerdem forscht die quantitative Psychologie kaum zu jenen wenigen Menschen, die Verschwörungstheorien in die Welt setzen. Da sind andere Disziplinen gefragt.

Verschwörungstheorien sind in den vergangenen Jahren ein großes Thema geworden. Wie spiegelt sich das in der psychologischen Forschung?

Es gibt zwei Entwicklungen. Zum einen die Abkehr vom Pathologisieren, die ich ja bereits angesprochen habe. Zum anderen: Lange Zeit haben wir uns vor allem mit den absurden Verschwörungstheorien beschäftigt: »Elvis lebt noch« oder »Bielefeld gibt es nicht« – warum glauben Menschen an sowas? Dann hat man festgestellt: Wer so denkt, neigt auch dazu, Normen zu überschreiten. Während der Corona-Pandemie haben wir das in extremer Form erlebt.

Man muss Menschen ernst nehmen. Wer ihnen im Geiste ›den Aluhut‹ aufsetzt, erreicht sie gar nicht mehr.

Dazu gehörten Gewaltaufrufe, eskalierende Demos, Brandsätze auf wissenschaftliche Einrichtungen und Morddrohungen.

Die Gesellschaft hat gesehen, dass es sehr gefährlich werden kann, wenn viele Menschen an die gleiche verschwörerische Erzählung glauben. Und politische Akteure haben verstanden, dass sie sehr schnell sehr viel Einfluss gewinnen können, wenn sie mit einfachen Erklärungen ans verschwörerische Denken andocken. Bei Corona gab es zum einen die alternativen Erklärungsmodelle: »Das Virus gibt es gar nicht. Die Medien manipulieren die Wahrheit. Da will sich wer auf unsere Kosten bereichern.« Und dann veränderte sich auch die Einstellung dazu, welche Reaktionen legitim sind: »Wenn die sich nicht an die Spielregeln halten, müssen wir es auch nicht. Gegen Repression darf ich mich wehren.«

Wie sollten wir damit umgehen?

Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, sind sehr schwer zu erreichen. Diesen Annahmen kann man kaum entgegenwirken, sie sind noch härter zu knacken als Stereotype. Rationale Argumente bringen nichts, wenn mein Gegenüber das Gefühl hat, sein gesamtes Wertesystem und Weltbild werden angegriffen. Man muss Menschen ernst nehmen und ihnen nicht im Geiste »den Aluhut aufsetzen«. Sonst erreicht man sie gar nicht mehr. Dann ist die Kommunikation verbaut. Das gilt auch im größeren Zusammenhang: Stigmatisieren wir als Gesellschaft eine Gruppe, können wir nicht erwarten, dass sie uns vertraut und sich mit unserer Sicht der Dinge auseinandersetzt.

Das klingt nach einem etwas aussichtlosen Kampf, wie Don Quijote gegen die Windmühlen. Wie bewahren Sie als Wissenschaftler Ihre Motivation?

Arie Kruglanski, ein amerikanischer Psychologe, der Terrorismusforschung betreibt, hat sinngemäß gesagt: »Wenn wir nicht verstehen, was in den Köpfen von Terroristen vorgeht, welche Rationalisierungsprozesse da ablaufen – dann können wir Terrorismus nicht bekämpfen.« Das gilt aus meiner Sicht ähnlich für Verschwörungsglauben: Ich versuche zu verstehen, um zu verändern. Mein Ziel ist es, eine Grundlage für Interventionen zu schaffen. Aber man braucht bei diesem Forschungsthema viel Frustrationstoleranz.

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