Die Leibniz-Gemeinschaft wird 30 Jahre alt, doch zum Jubiläum blicken wir nicht zurück, sondern befragen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ganz am Anfang ihrer Karriere stehen. Was für ein Lebensgefühl haben sie, welche Erfahrungen machen sie als junge Forschende – und wie könnten ihre Erkenntnisse die Welt in 30 Jahren ein Stück verbessert haben? In Folge 9 antwortet Anja Binkofski. Sie promoviert am Deutschen Schifffahrtsmuseum – Leibniz-Institut für Maritime Geschichte in Bremerhaven im Bereich Maritime Anthropologie
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LEIBNIZ Frau Binkofski, wie würden Sie Ihr Forschungsthema jemandem auf einer Party erklären?
ANJA BINKOFSKI Ich schaue mir an, wie Schiffe in Deutschland recycelt werden können. Warum? Das Problem ist, dass man zu wenig darüber nachdenkt, was mit den alten Schiffen passiert, die nicht mehr die großen Weltmeere befahren können. Wenn es schlecht läuft, werden sie versenkt oder illegal in Indien, Bangladesch oder Pakistan am Strand verschrottet. Dabei entstehen große Gefahren für Mensch und Umwelt, etwa, wenn giftige Stoffe ins Meer gelangen. Seit diesem Frühjahr dürfen Schiffe aber auch bei uns in Deutschland wiederverwertet werden, und einige Firmen sind dabei, ein sicheres, umweltfreundliches und nachhaltiges Schiffsrecycling aufzubauen. Ich begleite diesen Prozess, bin vor Ort, spreche mit Beteiligten und schaue mir an, welche Auswirkungen diese neue Branche auf Regionen hat, die früher schon große Werftstandorte waren.
Und was würden Sie zu einem Kollegen oder einer Kollegin sagen?
Ich erforsche ethnografisch die Etablierung der Schiffsrecyclingbranche in Norddeutschland. Dabei hinterfrage ich verschiedene Sichtweisen auf Nachhaltigkeit oder auf das Potenzial, alten Standorten maritimer Industrie neue Zukunftsperspektiven zu liefern. Besonders relevant ist das Thema durch die in diesem Jahr wirksam werdende Hongkong-Konvention, die strengere Arbeits- und Umweltschutzauflagen und Zertifizierungen auch für Recyclingwerften in Südasien fordert. In der ethnografischen Feldforschung bin ich vor Ort und spreche mit Schiffsrecycling-Unternehmen, Reedereien, Schiffseigner:innen und Politiker:innen. Dabei ist es mir wichtig, verschiedene Perspektiven aufzuzeigen und die Geschichten und Narrative im Feld aufzunehmen. Was bedeutet es, Schiffe nachhaltig zu recyceln? Welche Anreize oder Strafen können implementiert werden, damit die Schiffe nicht auf den Stränden Südasiens landen, sondern in einer zertifizierten Werft in Europa?
Was war bisher der schönste Moment in Ihrem bisherigen Leben als Forscherin?
Meine Masterarbeit, in die so viel Schweiß und Herzblut geflossen ist, fertig und gedruckt in den Händen zu halten! Ich habe darin untersucht, wie die Zukunftsperspektiven der Halligen im Zeitalter der Ungewissheit durch Klimawandel und Meeresspiegelanstieg aussehen und wer alles in die Zukunftsplanung mit einbezogen werden muss. Zum schönsten Moment gehörte auch, dass ich sehr viel positive Rückmeldung von den Hallig-Bewohner:innen bekommen habe, denen ich die Masterarbeit zum Lesen geschickt hatte. Sie konnten sich in meiner Arbeit gut wiederfinden, und vielleicht trägt sie ein kleines bisschen dazu bei, Aufmerksamkeit auf die Halligen und die Problematiken durch den Meeresspiegelanstieg zu lenken. Der Aufwand für die Masterarbeit hat sich im Endeffekt sogar doppelt gelohnt, denn sie gewann den Bremer Studienpreis 2024. Ich hoffe, in ein paar Jahren genauso stolz meine Doktorarbeit in den Händen halten zu können.

Wie könnte Ihre Forschung die Welt in 30 Jahren ein Stückchen verbessert haben? (Sie dürfen träumen.)
In 30 Jahren hat sich nachhaltiges Schiffsrecycling in Norddeutschland voll etabliert. Dabei ist der Standort Deutschland besonders für die nachhaltigen Prozesse und die großflächige Wiederverwertung der Rohstoffe bekannt. Die von der Branche getesteten technischen Innovationen und nachhaltigen Prozesse wurden auch an anderen Standorten übernommen. Trotz der Konkurrenz mit Südasien lohnt sich Schiffsrecycling nun in Deutschland, da Reedereien und Schiffseigner:innen nicht nur auf finanzielle Gewinne setzen, sondern andere Anreize geschaffen wurden, den Standort Deutschland zu wählen. Nachhaltiges Schiffsrecycling in Norddeutschland führte zum Aufleben der vorhandenen maritimen Infrastruktur. So konnten Arbeitsplätze gesichert und neue geschaffen werden, was zur Aufwertung vieler maritimer Standorte geführt hat, zum Beispiel von Bremerhaven.


In welcher Epoche wären Sie gerne Wissenschaftlerin gewesen? Oder ist heute die beste Zeit?
Heute ist für mich die beste Zeit, um Wissenschaftlerin, genauer gesagt: Maritime Anthropologin, zu sein. Gerade für Frauen in der Wissenschaft ist mehr möglich als in den vergangenen Jahrhunderten, obwohl sich auch hier noch einiges tun muss. Heute ist auch die beste Zeit für anthropologische Themen. Sie finden mehr Anerkennung, und Anthropolog:innen werden stärker in die interdisziplinäre Zusammenarbeit einbezogen. Auch hat sich in Feld der Anthropologie selbst einiges getan: Man ist weg von der Idee der Kultur als Nation, hin zu transkulturellen Gebilden und Netzwerken gekommen. Kultur ist demnach dynamisch und wandelbar. Allerdings habe ich durchaus Angst vor der Zukunft, denn schon heute sehen wir die Bedrohung der Wissenschaft durch Faschismus und politische Veränderungen.
Ein Leben für die Wissenschaft
– könnte dies einst der Untertitel für Ihre Biografie sein? Wenn nicht: Welchen Untertitel fänden Sie passend?
Ich finde den Untertitel: Immer eine Frage mehr/Meer
passender, weil er einerseits meine neugierige Natur zeigt und andererseits meine Liebe zu maritimen Themen. Das wissenschaftliche Arbeiten und Forschen ist zwar meine Passion, doch finde ich es wichtig, im Leben auch einen guten Ausgleich dazu zu finden.
Wenn Sie sich mit Menschen Ihres Alters treffen, die nicht in der Wissenschaft arbeiten: Was ist der größte Unterschied zwischen Ihnen?
Sie haben einen sehr geregelten Arbeitsalltag. Morgens zwischen 8 und 9 Uhr geht es im Büro los, um 16 Uhr nach Hause und zu Hobbys. Ich habe an meinem Institut zwar auch feste Arbeitszeiten, sitze jedoch auch manchmal spätabends und am Wochenende zu Hause am Laptop, weil ich noch eben
einen Gedanken aufschreiben will, oder ich mache Feldforschung und bin mit meinem Notizbuch und Aufnahmegerät in der Weltgeschichte unterwegs. Es ist sehr abwechslungsreich, was mir sehr gut gefällt!
Wenn Sie sich mit älteren Forschenden Ihrer Disziplin treffen: Was ist der größte Unterschied zwischen Ihnen?
Ältere Forschende in meiner Disziplin haben mehr gelesen als ich, deshalb können sie sehr häufig gute Literaturtipps geben. Das ist dann immer so ein Ideen-Pingpong. Ich tausche mich sehr gerne mit anderen Forschenden aus und lerne von ihren Erfahrungen.
Welche Eigenschaft halten Sie für die wichtigste, um Karriere in der Wissenschaft zu machen?
Kreativität und den Mut, Dinge auch mal anders anzugehen, Offenheit für einen Perspektivwechsel, Neugierde, Wissensdurst, Durchhaltevermögen und Vertrauen darauf, dass sich eine neue Chance für ein Projekt, eine Stelle oder eine Finanzierungsmöglichkeit ergeben wird.
Was macht kulturwissenschaftliche Forschung aus Ihrer Sicht besonders?
In den Kulturwissenschaften forschen wir empirisch, qualitativ und lokal. Wir arbeiten mit Geschichten, die uns die Menschen in unserem Forschungsfeld erzählen. Wir verstecken nicht, dass Wissenschaft auch sehr subjektiv sein kann. Trotzdem schließen wir von unseren individuellen Fallbeispielen auf ein größeres Ganzes. Dabei liegt der Wert in jeder einzelnen Aussage, die mit uns geteilt wird. Dieses Vorgehen mag für manche Menschen, vor allem aus den Natur- und Technikwissenschaften, überraschend sein, doch in diesen Perspektiven auf menschliches Handeln, Geschichten und deren Bedeutung liegt die Stärke des Beitrags der Sozial- und Kulturwissenschaften.


Wie würden Sie gerne als Wissenschaftlerin wahrgenommen werden?
Mir ist es wichtig, als vertrauensvoll und kompetent wahrgenommen zu werden, aber auch als rücksichtsvoll und verständnisvoll. In einer akademischen Umgebung ist es mir wichtig, dass meine Aussagen auch Gewicht haben und einen Beitrag zum Lösen größerer Probleme leisten können. Viele große Herausforderungen unserer Zeit, wie zum Beispiel der Klimawandel, lassen sich nicht ohne den Einbezug von gesellschaftlichen Perspektiven lösen.
Bitte ergänzen Sie die folgenden Sätze. Sie können realistische Wünsche äußern oder Ihre Fantasie spielen lassen. Satz Nummer 1: Meine Arbeit wäre so viel einfacher, wenn …
… ich ein fotografisches Gedächtnis hätte.
Davon hätte ich gern mehr:
Zeit und Bücher.
Wenn ich etwas sofort abstellen könnte, wäre das …
… die Ausbeutung und die Arbeit in der maritimen Branche unter menschenunwürdigen Umständen – und die Kriege in dieser Welt.
Jede/r sollte wissen, dass …
… Schiffe nicht einfach verschwinden, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.
Um das ein für allemal richtig zu stellen:
Auch Geistes- und Kulturwissenschaftler:innen können Meeresforschung betreiben!
Was ist Ihre größte Unsicherheit, bezogen auf Ihre Karriere?
Ich habe Angst, dass es irgendwann nicht mehr so gut läuft, wie es im Moment gerade der Fall ist. Momentan entwickeln sich die Dinge in meinem Forschungsfeld rasend schnell, so dass ich Sorge habe, Dinge zu verpassen, oder nicht alles greifen zu können.
Wie schaffen Sie es, trotzdem gelassen zu bleiben?
Durch den Austausch mit Kolleg:innen, die Unterstützung von Familie und Freunden, Sport und Zeit in der Natur.
Träumen Sie manchmal von der Arbeit? Wenn ja: Sind es angenehme Träume?
Ich träume eigentlich nie von der Arbeit. Nur manchmal, wenn ich ein spannendes Interview oder Treffen verarbeiten muss, dann tauchen schon mal ein oder zwei Schiffe in meinen Träumen auf.
Ihr liebster Arbeitsplatz?
Mein Büro mit Blick auf den Deich. Der ist in jeder Wetterlage schön. Man kann beobachten, wie Menschen spazieren gehen, und manchmal fahren große Schiffe vorbei.
Ein Stillleben auf Ihrem Schreibtisch?


Nach dem Aufwachen: Wie fängt Ihr Tag gut an?
Ich mag, wenn es morgens etwas langsamer und ruhiger ist. Dabei hilft ein entspanntes Frühstück, entweder zu Hause oder im Zug auf dem Weg nach Bremerhaven, mit Blick auf die tief stehende Sonne über den weiten Feldern Niedersachsens. Meistens habe ich dabei einen spannenden Podcast auf den Ohren. Wenn ich in Bremerhaven aus dem Zug steige und die Seeluft schnuppere, bekomme ich direkt gute Laune.
Worauf freuen Sie sich an einem ganz normalen Arbeitstag?
Meine Kolleg:innen im Büro zu sehen, tief in die Analyse meiner Interviews einzutauchen und neue Zusammenhänge zu finden.
Worauf freuen Sie sich, wenn Ihr Arbeitstag zu Ende geht?
Zu Hause bekocht zu werden, auf der Couch zu entspannen, mich mit Freund:innen zu treffen.
Ein hilfreicher Snack für zwischendurch?
Schokokugeln und Weintrauben. Manchmal gibt es auch Kuchen im Büro.
Eine kleine Flucht aus dem (Arbeits)Alltag, die Ihnen hilft, schnell wieder aufzutanken?
In der Mittagspause hilft mir ein kleiner Spaziergang über den Deich, an der Promenade oder durch den Park.
Was hilft Ihnen, Ideen zu finden?
Die meisten Einfälle kommen mir beim Spazieren, Duschen oder wenn ich mit anderen Menschen spreche.
Was hilft Ihnen, Ihren Fokus zu behalten?
Handy weglegen oder ausschalten, und die Pomodoro-Methode mit einem Timer auf dem Computer: 50 Minuten konzentriert arbeiten, dann 10 Minuten Pause. Zum Beispiel, um Kaffee nachzufüllen oder mich einmal kurz zu bewegen.
In welchen Momenten vergessen Sie während der Arbeit alles andere um sich herum?
Wenn ich Menschen interviewe und sie mir ihre Geschichte erzählen. In den Flow komme ich auch, wenn es beim Schreiben auf einmal Klick macht und sich mehrere Ideen gut zusammenfügen.
ANJA BINKOFSKI, 28, promoviert am Deutschen Schifffahrtsmuseum – Leibniz-Institut für Maritime Geschichte in Bremerhaven. In ihrer Doktorarbeit erforscht sie ethnografisch das neu aufkommende Schiffsrecycling in Norddeutschland. Als Forschende an einem Museum versucht sie stets die Vermittlung ihres Themas in der Forschung mitzudenken. So plant sie als zusätzlichen Output zur Monografie einen wissenschaftlichen Podcast zu den Forschungsergebnissen.