LEIBNIZ Frau Schade, das Netz ist voller Tipps zum strukturierten Arbeiten. Sogar das Kundenmagazin meines Drogeriemarktes setzt das Thema auf den Titel. Warum wünschen sich so viele Menschen mehr Struktur?
HANNAH SCHADE Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass sich unsere Arbeit unglaublich verdichtet hat. Unsere Welt ist komplexer geworden: Wir müssen mehr kommunizieren und diese Korrespondenz muss irgendwie in den Arbeitstag gepresst werden. Viele Arbeitgeber nutzen die technischen Möglichkeiten, um mehr Produktivität mit weniger Mitarbeitenden zu erreichen. Dazu kommt, dass immer mehr Arbeitnehmer ihre Arbeit selbst gestalten können. Das bietet Freiheiten, stellt aber auch höhere Anforderungen, zum Beispiel an die Selbststeuerung. Eine gute Struktur hilft, diese Herausforderungen besser zu bewältigen.
Worum geht es denn dabei? Sollen wir noch effizienter arbeiten, noch produktiver werden?
Das Ziel der Arbeitspsychologie ist ein Mensch, der „happy, healthy and productive“ ist, also zufrieden, gesund und produktiv. Das ist kein Widerspruch. Viele Studien zeigen, dass glückliche und gesunde Menschen sehr viel produktiver arbeiten. Und je anspruchsvoller die Aufgabe, desto deutlicher wird dieser Zusammenhang. Wenn Führungskräfte das Maximum an Leistung herausholen wollen, müssen sie ihre Mitarbeitenden gut behandeln und dafür sorgen, dass sie sich erholen.
Warum ist das so?
Erholte, zufriedene Menschen sind motivierter, konzentrierter, empathischer, engagierter. Alles Eigenschaften, die in der modernen Dienstleistungsgesellschaft zentral sind. Bin ich dagegen gestresst, bekomme ich einen Tunnelblick: Ich suche keine Alternativen, bin nicht mehr offen für Neues und treffe schlechtere Entscheidungen. Außerdem kann ich meine Emotionen schlechter regulieren, bin reizbarer und gehe weniger auf meine Kollegen oder Kunden ein. Der gestresste Mensch ist des Menschen Wolf.
Wie muss meine Struktur denn aussehen, damit ich entspannt arbeiten kann?
Wichtig sind drei Elemente: Schlaf, Sport und Sozialleben. Das Ziel einer guten Struktur ist es, mich so weit zu entlasten, dass ich genügend Zeit für diese drei Elemente habe. Das heißt auch, dass ich Schlaf, Sport und Sozialleben mit Priorität einplane, ihnen feste Zeiten reserviere und diese Termine nicht absage oder aufschiebe.
Wie reagieren denn Arbeitgeber, wenn ihre Angestellten genau die Zeiten mit Priorität einplanen, in denen sie nicht arbeiten?
Ich sage es mal vorsichtig: Ich würde nicht erwarten, dass Veränderungen von oben angeschoben werden. Viele Führungskräfte stehen selbst schon so lange unter Stress, dass sie ihn gar nicht mehr merken – und auch nicht wahrhaben wollen, dass Veränderungen nötig sind.
Am besten fängt man also bei sich selbst an?
Auf jeden Fall. Ich sollte mir klar werden: Warum komme ich überhaupt auf den Gedanken, dass ich mehr Struktur brauche? Was will ich verändern? Was ärgert mich am meisten oder was frisst am meisten Energie? Als Leitfaden mit vielen Fragen und praktischen Tipps kann ich das FlexAbility-Selbstlern-Training empfehlen, das die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin entwickelt hat.
Wie stehen Sie denn zu einem Tipp, den man oft liest: Beachte deinen Biorhythmus!
Das ist ein sinnvoller Anfang für eine neue Struktur. Die Leistungsfähigkeit im Tagesverlauf ist sehr individuell. Im Allgemeinen hat man morgens mehr Energie für längere und komplexere Arbeitsaufgaben. Den Nachmittag strukturiert man dann eher mit kürzeren Arbeitsblöcken und häufigeren Pausen. Kreative Arbeit ist abends vielleicht nicht mehr drin, dafür hat man den richtigen Tunnelblick, um mal den Schreibtisch aufzuräumen.
Eine To-Do-Liste ist niemals leer.
Noch so ein Tipp, den man immer wieder hört: Sorge für einen aufgeräumten Schreibtisch!
Mittlerweile betrifft das den Desktop stärker als den Schreibtisch. Bei der Ordnerstruktur auf dem Computer sollte man sich tatsächlich regelmäßig fragen: Ist alles so abgelegt, dass ich effizient herankomme? Das macht das Leben leichter. Der Umgang mit dem physischen Schreibtisch ist mittlerweile etwas entspannter und individueller: Menschen, die ein gewisses Chaos brauchen, können dort alles liegenlassen, was sie wichtig finden. Auf keinen Fall darf mich der Schreibtisch zusätzlich stressen. Wenn ich mich auf eine Aufgabe fokussieren möchte, verstecke ich also die lange To-Do-Liste besser in der Schublade.
An To-Do-Listen scheiden sich ja eh die Geister. Die einen verteufeln sie, die anderen sind ohne sie verloren.
Das Problem ist, dass meist nur Aufgaben aufgeschrieben werden, die einen Termin oder eine Deadline haben. Dabei sollte man gerade für Tätigkeiten, die einen persönlich erfüllen oder weiterbringen, unbedingt Zeit einplanen – und nicht denken: Das mache ich, wenn alles andere erledigt ist. Eine To-Do-Liste ist niemals leer.
Führen Sie eine To-Do-Liste?
Ich habe sogar mehrere. Auf dem Handy zum Beispiel eine mit Aufgaben, die ich unterwegs erledigen kann. Sinnvoll ist auch eine Liste für »Niedrigenergiezeiten«. Wenn der Fokus für komplexere Aufgaben fehlt, sollte man sich nicht zwingen, sie hinzubekommen. Kann man stattdessen sinnvolle Niedrigenergie-Aufgaben abhaken, hat man das Gefühl: Ich war produktiv, obwohl ich an meinen Kernaufgaben nicht vorangekommen bin. Und umgekehrt ist es natürlich aber auch wichtig, dass solche weniger wichtigen, aber unabdingbaren Tätigkeiten mir nicht die Filetstücke meiner Leistungsfähigkeit stehlen.
Was mache ich, wenn ich nicht weiterkomme? Manche Strukturen kann ich vielleicht gar nicht alleine verändern. Oder ich falle im Arbeitsalltag wieder in alte Gewohnheiten zurück.
Gut ist es, wenn man Kollegen hat, denen man vertrauen kann und die selbst etwas verändern möchten. Kollegen kennen die Aufgaben, die Abläufe und die Vorgesetzten. Oft ist es sehr hilfreich, gemeinsam zu schauen, welche Strukturen sich realistischerweise auf welche Art optimieren lassen. Wir Arbeitspsychologen nennen das »Job Crafting«: Das Anpassen der Arbeit an die eigenen Bedürfnisse.
Wie funktioniert Job Crafting konkret?
Nehmen wir nochmal den Biorhythmus: Wenn ich weiß, dass ich früh besonders konzentriert bin, spreche ich mit meinen Kollegen ab, dass ich in dieser Zeit störungs- und unterbrechungsfrei arbeiten kann. Ein anderes Beispiel: Wenn ich nicht gerne telefoniere, findet sich im Team vielleicht jemand, der das gerne macht und dafür von anderen Aufgaben entlastet wird. Man kann auch Kunden tauschen, wenn mir bestimmte Menschen unangenehm sind. Und wenn sich das Team einig ist, dass ein bestimmtes Meeting kürzer sein sollte, kann ich mit diesem Vorschlag viel selbstbewusster zum Chef gehen. Kollegen können auch erinnern und ermutigen: Pünktlich in den Feierabend gehen. Häufiger das Stehpult benutzen. Richtige Pausen machen.
Wann ist eine Pause denn »richtig«?
Eine Pause sollte mir den größtmöglichen Ausgleich zu meiner Arbeit bieten. Wenn ich bei der Arbeit ständig mit anderen Menschen rede, kann es mir guttun, alleine spazieren zu gehen. Wenn ich viel vor dem Bildschirm sitze, sollte ich in der Pause nicht aufs Handy schauen. Dabei geht es um meine individuellen Bedürfnisse. Die gemeinsame Mittagspause in der Kantine beispielsweise gehört in vielen Firmen zur sozialen Norm. Für introvertierte Menschen kann sie allerdings der anstrengendste Teil des Arbeitstags sein, von dem sie sich erstmal wieder erholen müssen. Darüber sollte man dann mit den Kollegen reden.
Wie offen sollte man denn gegenüber Kollegen sein?
Viele Menschen verbieten sich intensivere Gespräche mit Kollegen, weil sie denken: Wir sind ja nicht zum Kaffeeklatsch hier. Man muss nicht unbedingt private Themen besprechen, um im Team ein Wir-Gefühl zu erreichen. Viel wichtiger ist es, Interesse für die Projekte der anderen zu haben, regelmäßig Zeiten für Check-ins einzuplanen: Woran arbeitet ihr gerade? Wie kann ich euch unterstützen? Wo brauche ich eure Hilfe? Das Vertrauen, sich auf seine Kollegen verlassen zu können, ist erwiesenermaßen eine sehr starke Ressource gegen Stress. Gerade für Menschen, die keinen großen Freundeskreis oder viel Familie haben.
Nochmal zurück zum eigenen Arbeitstag. Manche Menschen nutzen den sogenannten Pomodoro-Timer, um in einen gesunden Rhythmus zu kommen: 25 Minuten fokussiertes Arbeiten wechseln sich ab mit fünfminütigen Pausen. Ist das für jeden zu empfehlen?
Grundsätzlich ja. Der Rhythmus signalisiert dem Körper: Du sprintest jetzt 25 Minuten, aber das kannst du dir leisten, weil du dich danach erholen darfst. Für viele Aufgaben sind kurze Arbeitsphasen sinnvoll, weil sie zum Pragmatismus zwingen. Und eine fünfminütige Pause reißt einen auch nicht wirklich aus der Konzentration. Man guckt kurz aus dem Fenster, zählt die Blätter. Oder man macht die Augen zu und hört ein Lied. Dann geht es auch schon weiter.
In kurzen Pausen muss ich mich immer zwingen, nicht einfach weiter über die Arbeit nachzudenken.
Das ist aber wichtig, denn erst der Abstand von der Arbeit ermöglicht die Erholung. Die neue Struktur muss deshalb darauf ausgerichtet sein, dass ich mich von der Arbeit mental distanzieren kann, insbesondere vor dem Feierabend, vor dem Wochenende oder vor einem Urlaub. Wir Arbeitspsychologen nennen das Detachment, also mentales Abschalten von der Arbeit. Dabei helfen Rituale. Am Ende des Arbeitstages sollte man zum Beispiel alle offenen Aufgaben so fixieren, dass mir der Wiederanfang später leichtfällt. Nur dann kann ich sie komplett aus meinem Arbeitsgedächtnis löschen und mich wirklich auf andere Dinge einlassen.
Wenn ich mir meinen Arbeitstag neu strukturiert habe: Woran merke, dass die Struktur funktioniert?
Eine gute Struktur gibt Ruhe und Sicherheit. Im besten Fall kommen Sie immer häufiger in den sogenannten Flow: Sie arbeiten produktiv und vergessen alles andere um Sie herum. Irgendwann wird Ihnen bewusst: Huch, ich bin ein gutes Stück vorangekommen und es hat richtig Spaß gemacht!
Wenn die Struktur Ihnen ermöglicht, die wichtigsten Aufgaben in einem Zustand von Aufmerksamkeit und Genuss zu erfüllen, dann ist sie wirklich gut.
Das ist ja eine tolle Vorstellung: Ich plane mir für Donnerstag drei Stunden fokussiertes Arbeiten ein und freue mich die ganze Woche darauf.
Das ist der Idealzustand.
Und was ist, wenn es nicht ideal läuft?
Ein wichtiger Marker ist Erschöpfung. Die Struktur sollte die Erschöpfung, die ich am Ende eines Arbeitstages spüre, reduzieren. Wenn ich meine Struktur nach bestem Wissen und Gewissen optimiert habe, aber immer noch erschöpft bin, ist es Zeit für ein ernsthaftes Gespräch mit meiner Führungskraft.
Davor schrecken viele Menschen zurück. Zum Beispiel, weil sie den Vorwurf befürchten, nicht belastbar genug zu sein. Können Sie ihnen Mut machen?
Heute gilt es fast als normal, dass wir im Feierabend erschöpft auf der Couch zusammenbrechen. Aber das ist nicht Teil des Arbeitsvertrages. Ich muss nach der Arbeit noch die Möglichkeit haben, meinen Haushalt zu machen, meine Gesundheitsziele zu verfolgen oder meinen Hobbies nachzugehen. Führungskräfte haben die Aufgabe der Belastungssteuerung. Das heißt, sie sollten überlasteten Beschäftigten zum Beispiel Aufgaben vom Teller nehmen. Oder ihnen die Lizenz geben, selbst Prioritäten zu setzen.
Und wenn meine Führungskraft das nicht kann – oder will?
Bei der Beurteilung einer Arbeitssituation hilft oft ein Dreischritt: Love it, change it or leave it. Wenn ich meinen Job liebe, ist sowieso alles gut. Wenn nicht, sollte ich etwas verändern. Meine Arbeit neu strukturieren, Job Crafting im Team versuchen. Wenn das nicht geht, sollte man das Tabu brechen und den Job wechseln. Selbst in Branchen, die für schlechte Arbeitsbedingungen bekannt sind, gibt es Unternehmen, die ihre Mitarbeitenden besser behandeln als andere. Wenn Menschen chronisch erschöpft sind, ist damit jedenfalls niemandem gedient.