Die Schönheit, sie liegt bekanntermaßen auch im Auge des Betrachters. Und die Betrachterin ist gerade Christine Rohde. Stolz lächelnd nimmt sie eine Petrischale in die Hand und hält sie schräg gegens Licht. Der Boden der flachen Schale ist trüb, aber nicht überall: Er ist übersät mit kleinen Löchern, durch die man glasklar hindurchsehen kann.
Es ist eine Schönheit, die durch Zerstörung entstanden ist, aber freudig begrüßt wurde im ganzen Labor. Denn die trübe Schicht in der Plastikschale sind Bakterien, man spricht auch von einem Bakterienrasen
. Dort, wo der Rasen löchrig ist, sind vorher Phagen draufgetröpfelt worden. Phagen-Plaques
nennt man die Löcher deshalb. Sind sie nicht schön?
, fragt Christine Rohde.
Rohde ist Biologin an der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen in Braunschweig, kurz DSMZ. An dem Leibniz-Institut forscht sie zu sogenannten Phagen, seit Jahrzehnten schon. Phagen sind Viren, die ganz gezielt nach einer Art Schlüssel-Schloss-Prinzip Bakterien infizieren, sich in ihnen vermehren und sie anschließend zerstören, um freizukommen und sich weiter auszubreiten. Deshalb werden sie auch Bakteriophagen genannt. Und vielen gelten die Bakterienfresser als Hoffnungsträger in einer globalen Krise.
Bakteriophagen sind die häufigste biologische Einheit auf unserem Planeten: Zehn Quintillionen (1031!) Phagen gibt es Expertenschätzungen zufolge weltweit, das sind zehnmal so viele, wie es Bakterien gibt. Kein Wunder, dass sie so erfolgreich sind, gilt bei ihnen doch: Struktur dient Funktion. Nichts ist hier überflüssig. Aufgebaut sind sie wie eine Raumkapsel: In einer Art Kopf tragen sie das Erbmaterial, dann kommt ein Rumpf, der im Grunde nur aus einem Kanal besteht, aus dessen Ende seitlich kleine Füßchen herausragen. Mit den Füßchen docken sie an das Zielbakterium an, injizieren ihr Erbmaterial über den Kanal in den Erreger und legen so den Grundstein für ihre Vermehrung. Die befallenen Bakterien produzieren Hunderte neuer Phagen und werden dabei selbst zerstört.
Seit mehr als 20 Jahren sind die Phagen Christine Rohdes Forschungsgegenstand. Die Viren, die Bakterien so präzise den Garaus machen wie Auftragskiller – auch dann, wenn sonst nichts mehr hilft –, waren für sie schon immer ein Versprechen. Anfangs habe sie trotzdem für ihr Thema kämpfen müssen, sagt Rohde: um Aufmerksamkeit und um Forschungsgelder. Die Phagentherapie galt in der Szene als spannend, wurde sonst aber wenig beachtet. Das hat sich mittlerweile geändert: Das Interesse ist enorm gestiegen. Es gibt viel mehr Forschungsgruppen als früher, weltweit. Und es gibt plötzlich Fördergelder, die eine ganz neue Forschung möglich machen.
Das neue Interesse hat vor allem einen Grund: Das bisherige Mittel der Wahl steckt in einer existenziellen Krise. Konnte man bakterielle Infektionen vor einigen Jahrzehnten noch recht einfach mit Antibiotika behandeln, haben sich im Laufe der Zeit Bakterienstämme durchgesetzt, die über Abwehrmechanismen gegen die Medikamente verfügen, also resistent sind. Solche Stämme, ein Beispiel ist der multiresistente Staphylococcus aureus, kurz MRSA, lassen sich kaum noch mit Antibiotika bekämpfen. Und das ist ein lebensgefährliches Problem: Mehr als 1,3 Millionen Todesfälle jährlich sind bereits heute auf multiresistente Keime zurückzuführen, für 2050 rechnet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit jährlich zehn Millionen Toten. Bakteriophagen könnten diesen tödlichen Trend verlangsamen.
Dass sie als Behandlungsalternative immer spannender für die Forschung werden, hat auch mit einer weiteren Schwäche der Antibiotika zu tun. Denn die greifen nicht nur die Erreger hinter der zu behandelnden Infektion an, sondern auch das Mikrobiom, die bis zu zwei Kilogramm Mikroorganismen in unserem Darm. Es besteht hauptsächlich aus Bakterien, die nicht nur für unsere Verdauung wichtig sind, sondern zum Beispiel auch für die Regulierung des Immunsystems. Weil sein Zustand sich sogar auf komplexe Vorgänge im Gehirn auswirkt, spricht man inzwischen von einer Darm-Hirn-Achse
. Antibiotika greifen einige der Bakterien des Mikrobioms jedoch an und dezimieren so seine Vielfalt. Das kann eine ganze Reihe an Vorgängen im Körper negativ beeinflussen und beispielsweise Magen-Darm-Beschwerden, wiederkehrende Infektionen und Allergien zur Folge haben.
Phagen dagegen sind hochspezifisch. Meist attackieren sie nur eine ganz bestimmte Art von Bakterien. Das Mikrobiom wird praktisch nicht in Mitleidenschaft gezogen
, sagt Christine Rohde. Auch das macht die Forschung zur Phagentherapie nicht nur interessant, sondern dringlich. Aber: Wo findet man sie? Die passenden Phagen, die genau die richtigen Bakterienstämme ausschalten?
Im Grunde können sie überall stecken, wo es auch Bakterien gibt: im Boden, im Wasser, in unserer Nahrung. Und im menschlichen Darm
, sagt Christine Rohde und lacht. Mit ihrem Team sucht sie deshalb auch im Abwasser nach Phagen für die Bekämpfung multiresistenter Erreger. Bei ihrem ersten Besuch haben die Mitarbeiter des Klärwerks in der Nähe von Braunschweig nicht schlecht gestaunt, als Rohde und ihr Team vorbeikamen, um im Auftrag der Medizin von morgen ein bisschen Abwasser mit ins Labor zu nehmen; inzwischen helfen sie bei der Probenentnahme. Das Abwasser aus dem Klärwerk bereiten die Wissenschaftler zurück im Labor auf und tröpfeln es in ihre Petrischalen. Tun sich Löcher im Bakterienrasen auf, wissen sie: Sie haben einen wirksamen Phagen gefunden!
Und dann? Theoretisch bräuchte man die Phagen sich nun nur noch vermehren lassen. Sie dann reinigen und abfüllen, beispielsweise in Pillen. Und sie der Patientin oder dem Patienten verabreichen. Doch während die Therapie in Ländern wie Georgien, das als Mutterland der Phagentherapie gilt, schon seit Langem zum Einsatz kommt, ist der Weg zur klinischen Anwendung bei uns noch weit. Mittlerweile konnten zwar zahlreiche Studien zeigen, dass die Phagentherapie praktisch keine Nebenwirkungen hat. Phagen schonen nicht nur das Mikrobiom, sie greifen auch sonst eigentlich keine Körperzellen an, denn sie sind ja in der Regel auf eine bestimmte Bakterienart spezialisiert
, sagt Rohde. Das ist im Grunde Präzisionsmedizin, wie sie überall gesucht wird.
Doch was fehlt, ist ein Wirknachweis. Und genau den fordern die Zulassungsbehörden, bevor sie auch nur bereit sind, einen Zulassungsantrag entgegenzunehmen.
Christine Rohde und ihr Team wollen ihn erbringen. Etwa in dem Projekt »Phage4Cure«, der ersten klinischen Studie mit Phagen in Deutschland. Als Teil eines Forschungskonsortiums untersuchen sie darin gemeinsam mit der Berliner Charité unter anderem, ob Mukoviszidose-Patientinnen und -Patienten, die vom Keim Pseudomonas aeruginosa befallen sind, von einer Behandlung mit Phagen profitieren. Mukoviszidose ist eine angeborene Stoffwechselerkrankung, bei der zäher Schleim in den Zellen entsteht und vor allem die Lungen anfällig für Erreger macht. Für Pseudomonas aeruginosa zum Beispiel. Weil das Bakterium häufig multiresistent ist und Antibiotika oft kaum noch wirken, braucht die Medizin dringend neue Behandlungsoptionen.
Im Rahmen der Studie inhalieren die Teilnehmer einen Cocktail aus drei Phagenarten, die auf Pseudomonas aeruginosa spezialisiert sind. In einem anderen Projekt sollen die Probandinnen und Probanden eine Tablette mit einem Cocktail aus vier Phagenarten schlucken. Im Darm sollen die Phagen den Erreger Enterococcus faecium bekämpfen, der sich bei stark immunsupprimierten Krebspatienten oft vermehrt ausbreitet und gegen die verfügbaren Antibiotika weitgehend resistent ist.
Wenn die Präparate wirken, könnte das ein Riesenschritt in Richtung klinische Anwendung sein
, sagt Rohde. Die ersten Ergebnisse aus »Phage4Cure« werden für Herbst dieses Jahres erwartet. Parallel gilt es, ein weiteres Problem zu lösen: Um sie im klinischen Alltag einsetzen zu dürfen, müssen Phagen so hergestellt werden, dass sie den hohen Anforderungen der sogenannten guten Herstellungspraxis
gerecht werden, die das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte vorgibt – in immer gleichbleibender Qualität, so wie jedes Arzneimittel.
Im Moment werden Phagen noch in genau den Bakterien gezüchtet, die sie nach der Vermehrung zerstören. Die lizensierten Hersteller schaffen es auch bei diesem Verfahren, die Anforderungen zu erfüllen – aber das ist mit enormem Aufwand verbunden, weil auch noch die letzten Überreste der zerstörten Bakterien vollständig beseitigt werden müssen
, sagt Rohde. Schon jetzt arbeiten Unternehmen deshalb an Wegen, Phagen einmal ohne die Beteiligung von Bakterien im Labor herzustellen, mit gentechnischen Methoden.
Glückt das, könnte es die Phagen auch für Pharmafirmen interessanter machen. Deren Enthusiasmus hält sich bislang in Grenzen, denn: Geld verdienen sie vor allem mit Therapien für chronische Krankheiten, die oft ein Leben lang erfolgen müssen. Eine Phagentherapie dagegen ist normalerweise nach wenigen Tagen bis Wochen beendet, die Erreger sind dann besiegt. Trotzdem gilt auch: Wenn etwas gut wirkt, kann es gut verkauft werden. Mit jedem Erfolg in der klinischen Forschung dürfte das Interesse der Industrie größer werden
, sagt Christine Rohde.
Im Juni ist sie in den Ruhestand gegangen. Eigentlich.
Vom Erfolg profitiert auch die DSMZ. Und damit die Phagenforschung in Deutschland und der ganzen Welt. Mehr als 87.000 Erreger lagern im Institut schon heute in riesigen Metallbehältern bei minus 200 Grad Celsius. Darunter Bakterien, Pilze – und fast 1.000 Phagen, die größte Phagensammlung Deutschlands. Andere Forschungseinrichtungen und auch Unternehmen können sie im Onlineshop bestellen, um mit ihnen in eigenen Phagen-Projekten zu arbeiten.
Eine große Auswahl an Phagen ist künftig nicht nur für Standardtherapien interessant, die etwa beim Befall mit Keimen wie Pseudomonas aeruginosa zum Einsatz kommen könnten. Man kann die Phagen individuell über ein sogenanntes Phagogramm auswählen, passgenau für einzelne Patientinnen und Patienten
, erklärt Rohde. In einigen Jahren werde das hoffentlich zum klinischen Alltag gehören. Wieso das wünschenswert ist, zeigt ein Projekt in Berlin. Das dortige Bundeswehrkrankenhaus erstellt schon jetzt personalisierte Phagentherapien für Patienten mit Wundinfektionen, die nicht auf Antibiotika ansprechen, darunter verwundete Soldaten aus der Ukraine. Bei einzelnen Patienten habe es spektakuläre Erfolge gegeben: Infektionen, die sich gegen alle antibiotischen Behandlungen resistent gezeigt hatten, konnten therapiert werden.
All ihren Vorzügen zum Trotz sollen Phagen die Antibiotika aber auch langfristig nicht ersetzen, sagt Christine Rohde. Zu einem wichtigen Standbein in der Therapie von Infektionen könnten sie sich dennoch entwickeln. Da tut sich nämlich eine Menge
, sagt Rohde und zeigt auf Dutzende Petrischalen, die im Labor ausgebreitet sind. Sie alle beinhalten den trüben Bakterienrasen – von Phagen-Plaques durchlöchert.
Hinter Rohde an der Labortür klebt ein Zettel, auf dem jemand einen Spruch ausgedruckt hat: Wer nicht phagt, der nicht gewinnt!
. Christine Rohde ist heute eine sehr bekannte Phagen-Kennerin. Und im Juni eigentlich in den Ruhestand gegangen. Eigentlich. Denn ihren Arbeitsplatz behält sie und führt einen Teil ihrer Projekte fort. Sie will auch weiter regelmäßig ins Labor kommen, für Rohde ist das selbstverständlich: So kurz bevor die Phagentherapie endlich in der Klinik ankommt, wer würde da schon aufhören wollen?