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MAXIMILIAN SEITZ
arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg. Dort befasst er sich mit den Themen »Frühe Bildung« und »Kompetenzentwicklung«.

LEIBNIZ Herr Seitz, waren Sie als Schüler gut in Mathematik?

MAXIMILIAN SEITZ Mittelmäßig. Ich fand Mathe immer zu abstrakt, der Bezug zur Welt und zu echten Problemen hat mir gefehlt. Das änderte sich aber im Studium, als ich Statistik lernen musste – sozusagen angewandte Mathematik. Da ist mir aufgegangen, was Zahlen und Mengen alles bedeuten können, wie eng sie mit unserem Alltag verknüpft sind.

Inwiefern?

Mathematik kann helfen, die Welt und die Menschen um uns herum besser zu verstehen. Im Alltag kann ich zum Beispiel damit einschätzen, wie viel Wasser ich innerhalb eines Jahres brauche, wenn ich jeden Tag dusche. Mathematische Fähigkeiten sind aber auch für Schulerfolge relevant und entscheiden somit über den Zugang zu bestimmten Studiengängen und Berufen. Sie ermöglichen einfach sehr viele persönliche Freiheiten. Und dann gibt es noch die gesellschaftliche Dimension: Das Wirtschaftswachstum einer Nation hängt unter anderem von ihren mathematischen Kompetenzen ab.

Das bedeutet für Deutschlands Zukunft wenig Gutes, oder? Deutsche Kinder schneiden in den Vergleichsstudien ja nicht so gut ab.

Deutschland befindet sich im Mittelfeld, aber es gibt einen Abwärtstrend. Wenn man sich TIMSS anschaut, die große internationale Vergleichsstudie für mathematische Fähigkeiten im Grundschulalter, gibt es viele Kinder, die bereits in den unteren Kompetenzniveaus hängen bleiben, weil sie kein gutes basales Verständnis von Zahlen, Mengen und Verhältnissen haben. Wir nennen das Vorläuferfähigkeiten.

Wann entwickeln sich die Vorläuferfähigkeiten?

Bereits vor der Schule. Schon Babys wachsen mit einem intuitiven Verständnis für Mengen auf. Sie erkennen, dass es diskrete – also eindeutige, abgrenzbare – Objekte gibt, die zusammen jeweils eine Menge bilden. In einer Studie von Anfang der 1990er Jahre hat man Babys im Alter von vier bis fünf Monaten Puppen gezeigt. Erst sahen die Kinder zwei Puppen, die anschließend verdeckt wurden, während eine dritte hinzukam. Dann wurde die Verdeckung abgenommen, doch anstatt der erwarteten drei Puppen waren nur zwei zu sehen. Bemerkenswert war, dass die Kinder fast alle verblüfft reagierten: Sie schauten hin und überlegten sichtlich, was hier eigentlich gerade passiert. Im Vergleich dazu waren sie nicht erstaunt, wenn nach dem Aufdecken drei Puppen zu sehen waren. Das zeigt für mich sehr gut, dass es ein grundlegendes Verständnis gibt, in Mengen zu denken. Es veranschaulicht aber auch die Neugier, die schon ganz kleine Kinder haben.

Wann wird daraus ein bewusstes Verständnis?

Im Laufe der ersten zwei Lebensjahre lernen Kinder, Mengen und Relationen immer besser zu verstehen. Das ist zu diesem Zeitpunkt aber immer noch sehr an Objekte geknüpft, die sie in ihrer Umgebung finden. Sie sehen also zum Beispiel: Hier habe ich fünf Holzklötze und kann damit einen Turm bauen. Wenn ich vier Klötze habe, ist der Turm kleiner. Oder: Hier sind zwei Äpfel, und wenn ich zwei dazu nehme, ist die Menge doppelt so groß. Wenn die Kinder dann sprechen lernen, wird es komplizierter. Sie müssen lernen, Mengen an Symbole zu koppeln, in dem Fall: an Zahlen.

Welche Rolle spielen Eltern bei der Ausbildung der Vorläuferfähigkeiten?

Eine sehr große. Denn in den ersten drei Jahren kommt es sehr auf die Dinge an, die das Kind zuhause vorfindet, Spielsachen, Aktivitäten, Objekte, die im Haushalt eben vorhanden sind. Und auf die Kommunikation darüber: Je mehr die Eltern über Zahlen, Mengen, Verhältnisse und Wahrscheinlichkeiten sprechen, desto leichter tun sich Kinder später damit, diese Konzepte zu verstehen.

Wie gut ist dieser Zusammenhang belegt?

Studien zeigen, dass es frühe individuelle Unterschiede im Mengenverständnis gibt, die mit der späteren Matheleistung zusammenhängen. Wir können auch belegen, dass sich eine anregende Umgebung positiv auf das kindliche Verständnis von Zahlen auswirkt. Und es geht weiter: Die Matheleistung in der Grundschule hängt wiederum positiv mit der Leistung in späteren Schulfächern zusammen, aber auch mit der Studienfachwahl und sogar, weniger ausgeprägt, mit der Performance in den Studienfächern. Man kann also sagen, dass Kinder, die eine höhere Mathefähigkeit in der Grundschule hatten, später auch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit etwas in der Richtung studieren.

Es lohnt sich also, das Kind möglichst früh zu fördern.

Auf jeden Fall! Leider ist Mathe wie kein anderes Fach mit negativen Gefühlen oder auch mit Angst verknüpft. Das ist ein großes Problem, denn Eltern geben diese Abneigung bewusst und auch unbewusst an ihre Kinder weiter. Und dann kann es passieren, dass diese schon vor dem Grundschulalter eine Abwehrreaktion in Bezug auf alles entwickeln, was mit Zahlen zu tun hat.

Schon Babys haben ein intuitives Verständnis für Mengen.

MAXIMILIAN SEITZ

Foto LEIBINIZ-INSTITUT FÜR BILDUNGSVERLÄUFE (LIFBI)

Eltern geben ihre eigene Mathe-Abneigung auch unbewusst an ihre Kinder weiter.

MAXIMILIAN SEITZ

Warum ist das so?

Es gibt viele Mythen in Bezug auf Mathe. »Man muss sehr klug sein für Mathe«, »Talent für Mathe ist angeboren – man hat es oder man hat es nicht«, »Mathe ist was für Unkreative«: Das sind so einige der Glaubenssätze. Aber so einfach sollte man es sich nicht machen. Natürlich kann eine Person mit geringer Begabung kein Mathegenie werden, aber man kann sie trotzdem fördern und damit ihren Alltag sehr bereichern. Ich glaube, wir müssen Mathe in dieser Hinsicht gesellschaftlich neu denken.

Was müsste aus Ihrer Sicht geschehen?

Viele Eltern sind der Meinung, dass der gezielte Umgang mit Zahlen und Mengen allein Auftrag der Schule und der Lehrkräfte ist. Ganz anders übrigens als bei der sprachlichen Interaktion, die viel stärker als Aufgabe des Elternhauses wahrgenommen wird.

Und in der ersten Klasse ist es dann zu spät?

Viel zu spät. Denn das Problem ist die Ungleichheit in den frühen Fähigkeiten, die sich dann durchzieht. Wir müssen den Eltern beibringen, dass es nicht ohne häusliche Förderung geht. Gleichzeitig müssen wir von klein auf, spätestens im Kindergartenalter, institutionell fördern. In Ländern wie Taiwan und der Schweiz, die viel besser in den Vergleichsstudien abschneiden als Deutschland, ist Mathematik bereits in den Lehrplänen von Erzieherinnen enthalten – was natürlich nicht heißt, dass sie mit den Kindern Formeln auswendig lernen. Das Thema hat dort einfach einen ganz anderen Stellenwert als bei uns, auch im Elternhaus.

Wie können Sie Eltern die Angst nehmen?

Indem ich ihnen zeige, dass bereits kleine Dinge viel bewirken können. Und dass sie die Förderung sehr gut in den Alltag integrieren können.

Wie macht man das?

Ein guter Anfang mit sehr kleinen Kindern ist das einfache Zählen von Dingen, etwa von Klötzen oder Spielzeugautos. Dabei ist es aber wichtig, auch mal höher zu gehen, denn Analysen solcher Interaktionen zeigen, dass Eltern meist nur bis drei zählen. Das verstehen Kinder aber eigentlich schon intuitiv. Wir müssen also größere Zahlen anwenden, bei kleinen Kindern vielleicht so bis zur Zehn gehen, mit älteren auch höher. Ansonsten lernen Kinder einfach den Zahlenstrahl eins, zwei, drei bis maximal vier auswendig und begreifen diese Zahlen als eine Einheit, quasi als ein Wort. Sie sollen aber ja verstehen, dass zwei eins mehr ist als eins, drei wieder eins mehr und so weiter, und dass sie später auch nicht immer mit der Eins anfangen müssen. Mit etwas älteren Kleinkindern könnte man auch beim Kochen und Backen aufzählen, wie viele Eier in den Teig kommen, oder Mengen zeigen – so viel Milch kommt in den Topf, und wenn ich das Doppelte hineingieße, wie viel wäre das dann? Oder beim Pizzaschneiden mitzählen.

Man soll die Stücke zählen?

Genau, und man kann sie auch vergleichen: Ist das Stück von deiner Schwester größer oder kleiner? Wir sind fünf Leute, wie würdest du die Pizza schneiden, damit jeder gleich viel abbekommt? Man sieht, das ist alles sehr alltäglich und bedeutet natürlich nicht, dass das Kind später ein Einstein wird. Aber es hat zumindest eine gewisse Anregung und entwickelt dann vielleicht später weniger Probleme, weil es diese Grundlagen hat.

Was kann man mit etwas älteren Kindern tun?

Was immer gut geht, sind Brettspiele, Würfelspiele und Kartenspiele. Dabei kann man den Kindern zuerst intuitiv zeigen, was Mengen, Verhältnisse und Reihenfolgen sind: Wer anfangen darf und warum, wie viel mehr sechs im Vergleich zu vier ist, wie viele Schritte jemand gehen darf. Und das kann ich anfangs an konkrete Objekte wie Spielsteine oder Holzklötze knüpfen. Später wird es dann abstrakter und stärker instruiert von den Eltern. Die können dann auch mal sagen: Berechne mal das dies! Oder: Wie viel mehr ist denn das? Kartenspiele wie Uno sind auch gut geeignet, hier kann man direkt Zahlen vergleichen.

Was sagen Sie denn zu digitalen Hilfsmitteln? Sind Apps und Tablets sinnvoll?

Computerprogramme können durchaus etwas bringen, um ein frühes mathematisches Verständnis zu fördern. Das Wichtigste ist dabei aus meiner Sicht aber die Begleitung durch die Eltern, die Kinder sollten also nicht einfach vor dem Rechner geparkt werden. Es gab eine Science-Studie zu dem Thema, die Wellen geschlagen hat. Da ging es um ein Tabletprogramm, »Bedtime Math«, das Vorschulkinder zusammen mit den Eltern durchführen konnten. Allein diese Interaktion führte dazu, dass die Kinder später ein besseres Zahlenverständnis hatten. Und vielleicht noch wichtiger: Man konnte sehen, dass die Kinder, deren Eltern die größten Berührungsängste mit Mathe hatten, am meisten davon profitierten.

ZEHN FÖRDER-IDEEN VON MAXIMILIAN SEITZ

1. ZÄHLSPIELE: Mengen einschätzen und Objekte zählen, zum Beispiel Spielzeuge, Bälle oder Plüschtiere. Je nach Alter des Kleinkindes ist es sinnvoll, den Zahlenraum bis mindestens zehn zu nutzen.

2. FIGUREN: Puzzles, Schablonen und Blöcke helfen Kindern, räumliche Fähigkeiten auszubilden, die Vorläuferfähigkeiten von Geometrie sind.

3. MUSTER ERKENNEN: Muster und strukturelle Wiederholungen in alltäglichen Dingen aufzeigen und einordnen. Das geht zum Beispiel auch über Rhythmusspiele.

4. MESSSPIELE: Längen und Größen mit einem Lineal oder anderen Gegenständen vergleichen. Beispiel: Wasser in unterschiedlich große Gefäße umschütten und den Kindern erklären, dass die Menge dabei immer gleichbleibt.

5. SORTIER- UND KATEGORISIERUNGSSPIELE: Spielsachen oder Holzklötze nach Farbe, Größe oder Form sortieren.

6. ZAHLEN ERKENNEN UND RICHTIG ZUORDNEN: Spätestens im Vorschulalter sollten Kinder einfache Zahlen erkennen und einer Menge von Objekten zuordnen können, etwa über eine Tafel mit magnetischen Zahlen. Man kann auch im Haushalt nach allen möglichen Zahlen suchen und sagen, in welchem Kontext sie vorkommen (»Zahlenjagd«).

7. GESCHICHTEN, LIEDER UND REIME MIT ZAHLEN: Erhöhen die Fähigkeiten der Kinder nicht direkt, aber schaffen ein vertrautes und positives Gefühl. Beispiel: Ene, meine, 1, 2, 3.

8. KOCHEN UND BACKEN: Kinder beim Abwiegen helfen lassen, damit sie lernen, Mengenverhältnisse einzuschätzen und Schrittfolgen beim Backen oder Kochen einzuhalten. Weitere Beispiele: Kuchen- oder Pizzastücke gerecht aufteilen; Backzutaten in Anzahl von Bechern und Löffeln angeben.

9. KONSTRUKTIONSSPIELE: Spiele wie LEGO, KAPLA oder Ankersteine. Kinder können räumliche Anordnungen ausprobieren, Größenverhältnisse testen und Symmetrien üben. Im Vorschulalter kann man Kindern einfache Aufträge geben, sie zum Beispiel mit zehn Steinen etwas Bestimmtes nachbauen lassen.

10. NATUR: Bei einem Spaziergang Blätter zählen, Größen von Steinen vergleichen oder Wegstrecken einschätzen.

Zum Schluss noch ein Buchtipp: Frank Niklas »Mit Würfelspiel und Vorlesebuch: Welchen Einfluss hat die familiäre Lernumwelt auf die kindliche Entwicklung?« Springer Spektrum, 2014

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