LEIBNIZ Herr Köller, wie ist das so als Bildungsforscher, wenn man eine schlechte Botschaft nach der anderen verkünden muss?
OLAF KÖLLER Zum Glück muss ich ja nicht den ganzen Tag große Bildungsstudien vorstellen. Die meiste Zeit verbringe ich mit praxisnahen Forschungsprojekten, in denen es sehr konkret darum geht, Schule und Unterricht für Schülerinnen und Schüler besser zu machen. Zum Beispiel beschäftigen wir uns mit der Frage, wie wir die generative Künstliche Intelligenz zur Lern- und Leseförderung einsetzen können. Wenn dadurch in einigen Jahren bei Pisa und anderen Leistungstests wieder bessere Mittelwerte für Deutschland herauskommen, ist das umso schöner. Aber natürlich haben Sie Recht: Als einer, der seit über 20 Jahren das Bildungsmonitoring mitverantwortet und seit schon wieder über zehn Jahren immer schlechter werdende Ergebnisse für die Bundesrepublik erklären soll, frustriert mich vor allem eines: die Mut- und Handlungslosigkeit von Politikern in den Ländern und teilweise auch im Bund.
Es gibt Kultusminister, die der Auffassung sind, dass alles gar nicht so schlimm sei. Mit dem Krisengerede von einem angeblichen Bildungsnotstand werde nur die großartige Leistung all der Pädagogen und Bildungseinrichtungen entwertet. Trotzdem haben Sie öffentlich und mehrfach von einer dramatischen Lage an den Schulen gesprochen. Warum?
Wenn wir knapp 30 Prozent der 15-Jährigen in Deutschland zur Risikogruppe in Mathematik zählen und gut 25 Prozent zur Risikogruppe beim Lesen, dann ist das dramatisch. Das sind Jugendliche, die so schlecht in der Bildungssprache Deutsch lesen und so schwach in Mathe sind, dass wir mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit prognostizieren können: In einen qualifizierten Ausbildungsberuf schaffen die es nicht. Das entspricht 200.000 bis 230.000 jungen Menschen – jedes Jahr! Und wenn sie doch den Sprung auf eine Lehrstelle schaffen, scheitern sie häufig in der Berufsschule. Mit dem Ergebnis, dass wir fast ein Drittel von jedem Jahrgang für den Ausbildungsmarkt verlieren. Viele für immer. Und als reiche das noch nicht, beobachten wir eine dramatische soziale Schere. Mit dem Ergebnis, dass fast jeder zweite Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte ohne Ausbildungsplatz bleibt.
Wie kann das passieren, dass wir als ein reiches, wirtschaftlich immer noch starkes Land derart tief reingeschlittert sind in einen Zustand, den man eigentlich längst nicht mehr Krise nennen kann, sondern als Dauermisere bezeichnen muss?
Es ist ja noch schlimmer. Wir hatten die Trendumkehr eigentlich schon geschafft. Nach 2000 war das, als die damaligen PISA-Ergebnisse das Land aufgerüttelt hatten und die Bildungspolitik große Anstrengungen unternahm, einen Bildungsaufbruch zu organisieren. Es ging zehn Jahre lang aufwärts, wir Bildungsforscher konnten steigende Schülerleistungen bei nationalen und internationalen Tests konstatieren. Doch dann kam der Wendepunkt im Jahr 2012.
Was ist passiert?
Die Politik hat die Reformen nach PISA 2000 Stück für Stück zurückgefahren. Wir alle im Bildungssystem haben versäumt, die Fachdidaktiken zu modernisieren und damit auf die veränderten Lebenswelten der jungen Leute zu reagieren. Wir haben sie nicht mehr einfangen können mit Lerninhalten und Aufgaben, die ihre Erfahrungswelt ansprechen und sie motivieren, höhere Lernleistungen zu erreichen. Dazu kamen demografische Umwälzungen: niedrigere Geburtenraten bei Nicht-Einwandererfamilien, die großen Zuwanderungswellen 2015 und 2022 mit deutlich über einer Million Kindern und Jugendlichen, die in die Bildungsinstitutionen integriert werden mussten. Den Aufwand, den das bedeutet, hat die Bildungspolitik systematisch unterschätzt. Obwohl mein Kollege Jürgen Baumert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung ...
... einst bekannt als Pisa-Papst
...
... die Länder schon 2012 gewarnt hat, dass sie gegensteuern müssten und, anstatt mit den Bildungsreformen nachzulassen, eher noch weitere drauflegen müssten. So wurden unter anderem weitere Initiativen zur Sprachförderung angeregt und gefordert, den Ganztag besser für die Förderung benachteiligter Kinder und Jugendlicher zu nutzen. Doch der Widerstand in Teilen der Lehrer- und Elternschaft war so groß, dass man entschied, die Schulen möglichst in Ruhe zu lassen.
Sie haben das Jahr 2000 erwähnt, damals sprachen alle aufgeregt von einem PISA-Schock
. Inzwischen sind die Leistungen der Schüler in Deutschland noch schlechter, die soziale Spaltung ist größer, doch wo ist die Aufregung?
Aufregung sehe ich tatsächlich nicht, aber immerhin eine Art awareness in der Politik. Im Koalitionsvertrag der Ampel stand das Versprechen, die Probleme in der Bildung anzugehen. Ein Ausdruck dieser Absicht ist sicherlich das Startchancen-Programm, das benachteiligte Schüler und Schulen in den kommenden zehn Jahren mit zwei Milliarden zusätzlichen Euro jährlich fördern soll. Doch tritt die Bildungskrise hinter den anderen Krisen zurück, die die Politik offensichtlich stärker bewegen und für die sie bereit ist, deutlich mehr Geld in die Hand zu nehmen. Für die Remilitarisierung Deutschlands zum Beispiel oder für die Unterstützung der Ukraine, die ich natürlich richtig finde. Oder schauen Sie, welche Summen für die Energiewende bereitgestellt werden. Was mich bei alldem wundert, ist, dass selbst jene nicht lauter Alarm schlagen, die ohne genug qualifizierte Auszubildende aufgeschmissen sind. Die Wirtschaft beklagt den Fachkräftemangel und akzeptiert zugleich, dass fast eine Viertelmillion Menschen jedes Jahr die Ausbildungsreife nicht erreichen.
Gerade erst haben Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften gemeinsam eine Bildungsoffensive gefordert.
Haben Sie? Das große öffentliche Echo muss ich verpasst haben.
Sie haben die Ausgaben für Rüstung, für die Ukraine, für die Energiewende erwähnt. Wirtschaftsforscher haben außerdem errechnet, dass alleine vergangenes Jahr rund 40 Milliarden Euro in die Rente mit 63 geflossen sind – und das nächste Rentenpaket ist allen Krisen zum Trotz schon auf dem Weg. Läuft in Deutschland ein Konflikt der Generationen, und die Jungen verlieren?
Womöglich wird ein solcher Generationenkonflikt dadurch gefördert, dass es uns an gesamtstaatlicher Verantwortung und an der Bereitschaft fehlt, die Probleme gemeinsam anzugehen. Für die Bildung sind hauptsächlich die Länder zuständig, für die Rentenpolitik der Bund. Länder und Bund müssten aber gemeinsam die demografische Entwicklung über alle Altersstufen hinweg analysieren und kooperativ, konstruktiv und abgestimmt agieren. Doch genau das kann ich nicht erkennen, erst recht nicht in dieser Legislaturperiode.
Wenn wir die Bildung der Kinder und Jugendlichen als Gesellschaft vernachlässigen, ist das nicht auch ökonomisch sehr kurzsichtig? Welche Folgen wird das für die Wirtschaft und unsere Gesellschaft haben?
Wir müssen davon ausgehen, dass sich viele der Leistungsschwächsten nicht in eine erfolgreiche berufliche Karriere einfädeln werden. Viele von ihnen werden die Wohlfahrtsleistungen des Staates in Anspruch nehmen müssen und sehr geringe Lebenseinkommen haben. Ludger Wößmann vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung ...
... dem Münchner ifo Institut ...
... hat in diesem Zusammenhang wiederholt darauf hingewiesen, welche großen negativen Effekte geringe schulische Kompetenzen für die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts haben. Unterschiede in den Schülerleistungen, so Wößmann, können drei Viertel der Unterschiede in den Wachstumsraten der Länder weltweit erklären.
Ist Teil der Problemverweigerung, dass wir, anstatt anzupacken, ständig auf den Bildungsföderalismus schimpfen, der angeblich alles so schwer macht? Könnten Bund und Länder nicht auch unter den herrschenden Bedingungen und Zuständigkeiten genug erreichen, wenn sie nur wollten? Kai Maaz, Direktor des DIPF – Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation hat bei der Vorstellung des Nationalen Bildungsberichts unabhängig vom Föderalismus ein bildungspolitisches Steuerungsversagen konstatiert: Die Politik müsse sich ehrlich machen und sagen: Es liegt an der Art, wie wir unsere Bildungspolitik organisieren, wie wir unsere Bildungseinrichtungen steuern.
Ich würde mich auch nicht mit einer Debatte über die Abschaffung des Föderalismus aufhalten wollen, die ohnehin nicht kommen wird. Aber ich würde schon sagen: Es ist wichtig, dass wir in einem föderalen System kooperative Strukturen haben. Zwischen Bund, Ländern und dem dritten Player, den Schulträgern beziehungsweise den Kommunen. Die Bildungskrise, über die wir reden, ist auch eine Krise der Digitalisierung im Bildungssystem, und die wird nicht lösbar sein, ohne dass Bund, Länder und Kommunen fokussiert zusammenarbeiten. Es ist schlicht unmöglich und unsinnig, wenn jedes Bundesland für sich die nötige Infrastruktur für eine zukunftsfähige digitale Lernumwelt in Schulen schaffen würde. Es ist auch unmöglich, dass die Bundesländer das ohne die Hilfe des Bundes schaffen.
Was macht Ihnen Hoffnung, Herr Köller? Wenn Sie diese Frage Bildungspolitikern in Bund und Ländern stellen, sagen die zurzeit fast unisono: das Startchancen-Programm.
Das Startchancen-Programm wird keines unserer Probleme lösen. Dafür ist sein Volumen zu klein. Mit zwei Milliarden Euro pro Jahr werden wir die Risikogruppe in Deutschland nicht merklich reduzieren. Nach dem Programm haben wir ein paar renovierte Toiletten mehr und ein paar zusätzliche Sozialarbeiter in den Schulen. Aber das war es dann auch. Viel wichtiger als das Programm selbst ist seine symbolische Kraft als Indikator, dass die Politik beim Thema Chancengerechtigkeit noch nicht völlig aufgegeben hat. So wie ein weiteres Mauerblümchen, an dem wir uns bildungspolitisch ergötzen, das QuaMath-Programm, das die Professionalisierung des Unterrichts in Mathematik in den Blick nimmt. Immerhin das Fach, bei dem wir laut PISA 2022 die größten Probleme in Deutschland haben. Aber auch bei QuaMath müssen wir uns eingestehen: Das Programm läuft über zehn Jahre, und bis die positiven Effekte bei den Schülerinnen und Schülern ankommen, bin ich nicht nur schon im Ruhestand, sondern womöglich schon auf dem Friedhof. Bei der großen Baustelle der Digitalisierung, weiß ich derzeit gar nicht, wie wir sie beseitigen können.
Mehr Hoffnungsschimmer haben Sie nicht anzubieten?
Doch, etwas noch! Was mich optimistisch stimmt: dass die Länder an den Grundschulen die Stundenzahl für Mathematik und Deutsch erhöht haben, also für die Förderung von Basiskompetenzen. Als nächstes müssen gute Förderkonzepte in die Schulen. Auch die Hoffnung, dass der ab 2026 geltende Anspruch auf Ganztag in den Grundschulen einen Fortschritt bringt, habe ich noch nicht aufgegeben. Zumindest kann er die Voraussetzung für eine Unterstützung besonders lernschwacher Schülerinnen und Schüler schaffen. Dafür müssen die Schulen den Nachmittag sinnvoll nutzen, etwa in entspannten Settings Lesen, Schreiben und Rechnen üben. Ganz so, wie es vor zwei Jahrzehnten die Grundidee des ersten Ganztagsprogramms der damaligen Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn war. Aber da nimmt mein Optimismus dann schon wieder ab.
Warum?
Weil wir es in Deutschland, Stichwort Kooperation, nicht schaffen, beim Ganztag die Verantwortung für den Vormittag und den Nachmittag in dieselben Hände zu geben. Vormittags sind die Kultusministerien zuständig und nachmittags die Sozialministerien und Schulträger. Dieses Nebeneinander der Säulen lässt die systematische Förderung der Kinder am Nachmittag zu oft scheitern.