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Es gibt geradlinige Bildungswege und es gibt den Werdegang von Brigitte Finke. Mit 29 Jahren hielt sie ihr Abiturzeugnis in der Hand, und mit über 50 Jahren beschließt sie: Ich gehe an die Universität und studiere. Heute arbeitet sie am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe und beschäftigt sich mit dem Thema, das sie ein Leben lang begleitet: Bildung.

LEIBNIZ Sie hatten als Grundschülerin gute Noten, Frau Finke. Warum sind Sie nicht auf das Gymnasium gewechselt?

BRIGITTE FINKE Das Gymnasium war eine weit entfernte Welt. Niemand aus meiner Familie hat Abitur. Ich weiß noch, wie mein Grundschullehrer zu uns nach Hause kam, um meinen Eltern voller Stolz mein Übertrittszeugnis zu überreichen. Er dachte, jetzt freut sich die gesamte Familie. Die Noten waren so gut, ich hätte ohne Aufnahmeprüfung auf das Gymnasium wechseln können.

Aber?

Meine Eltern nahmen das Zeugnis schulterzuckend in Empfang und schickten mich auf die Realschule, wo schon meine ältere Schwester war. Darüber wurde auch nicht diskutiert, ich hatte das zu akzeptieren.

Welche Rolle spielte Bildung bei Ihnen zu Hause?

Mir hat nur selten jemand etwas vorgelesen. Die ersten elf Jahre meines Lebens bin ich auch nicht im Kino gewesen, ich habe als Teenager keine Kunstausstellungen oder Theateraufführung besucht. Ich habe es aber auch nicht vermisst. Alles, was ich brauchte, war draußen: Mit meinen Freundinnen bin ich auf Stelzen um die Häuser gelaufen, mit meinen Cousinen und Cousins habe ich Höhlen und Lager gebaut. In dieser unbeschwerten Kinderwelt spielten Erwachsene keine Rolle. Mein Vater arbeitete als Schleifer in der Kugellagerfabrik, meine Mutter putzte die Häuser der Besserverdienenden, und ich genoss die Freiheiten meiner unbeschwerten Kindheit.

Und die Schulaufgaben?

Die habe ich meistens erledigt, natürlich alleine, ohne Hilfe. Es gab aber einen Ansporn: Für eine 1 auf dem Zeugnis bekam ich fünf D-Mark, für eine 2 gab es Zwei Mark Fünfzig. In Englisch war ich gut, weil ich zu Hause vor dem Radio immer die Popsongs der schottischen Band »Middle of the Road« mitträllerte. So erschloss ich mir eine fremde Sprachwelt.

Brigitte Finke steht in einem abgedunkelten Konferenzraum des Institus.

Der ominöse Bildungstrichter

Haben die Eltern studiert oder nach der Hauptschule eine Ausbildung angefangen? Nach wie vor ist die Frage nach der sozialen Herkunft entscheidend, wenn es um den Bildungserfolg der Kinder geht. Nur 27 Prozent der Grundschülerinnen und -schüler aus einem Nichtakademikerhaushalt beginnen später ein Studium. Bei Akademikerkindern sind es 79 Prozent. Dargestellt wird dieses Ungleichgewicht oft im sogenannten Bildungstrichter. Der Weg an die Hochschule ist für Kinder, deren Eltern nicht studiert haben, um ein Vielfaches unwahrscheinlicher – der Trichter verengt sich. Christina Haas forscht am Leibniz Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) zu Chancenungleichheit und Studienverläufen. Noch in den 1960er und 1970er Jahren hatte das Geschlecht entscheidenden Einfluss auf den Bildungsweg: Bei jungen Männern stand die Erwerbsarbeit im Fokus, bei Frauen die Familiengründung, sagt Haas. Als besonders benachteiligt galt das »katholische Arbeitermädchen vom Land«. So beschrieben Soziologen lange Zeit einen Prototyp mit niedriger Bildungsbeteiligung.

Sie sind in Schweinfurt aufgewachsen. Nach der Realschule ging es für Sie von der unterfränkischen Provinz nach West-Berlin. Ein großer Schritt.

Meine Eltern waren alles andere als begeistert. Sie hatten andere Vorstellungen für mich: In der Fabrik oder als Schreibkraft arbeiten, und dann schnell heiraten. Aber ich wollte unbedingt eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin machen. Dafür musste ich raus. In Berlin wohnte ich im Wedding, die Mauer ganz nah. Heute ist das eine unfassbar teure Wohngegend, in den 1980er Jahren war es eine triste Ecke. Jeden Tag schaute ich auf das Blechschild: »Vous quittez le Secteur Français« – »Sie verlassen den Französischen Sektor« Ich bekam 350 Mark Bafög und verteilte nach der Schule Flyer, um mir noch etwas hinzuzuverdienen. Auch meine Schwestern unterstützten mich finanziell. Ich war immer das Nesthäkchen und ich glaube, sie waren stolz, dass ich den Weg gehen konnte, den ich mir immer gewünscht hatte.

Zwei Jahre später waren Sie staatlich geprüfte fremdsprachliche Sekretärin. Wie ging es weiter?

Ich war gerade volljährig und blieb im Berlin der unendlichen Möglichkeiten. Nahezu im Jahresrhythmus wechselte ich den Job. Erst arbeitete ich bei einer Filmproduktionsfirma als Sekretärin, dann bei einer Grundstücks- und Vertriebsgesellschaft. Später kümmerte ich mich als Prokuristin um den Geschäftsbereich Diabelichtung bei einer Multimedia-Agentur. Es war ein munteres Ausprobieren. Heute würde man dazu wahrscheinlich Selbstfindungsphase sagen.

Und wann reifte die Idee: Ich gehe nochmal zur Schule und mache mein Abitur?

Da war ich 26 Jahre alt und arbeitete beim Deutschen Institut für Normung. Das klingt langweiliger als es war. Ich mochte den Austausch mit Delegierten aus aller Welt und übersetzte Normen von Deutsch auf Englisch oder andersherum. Endlich konnte ich meine Sprachkenntnisse anwenden. Auf den Fluren und in den Konferenzen begegnete ich ständig Menschen mit Doktortitel. Mich faszinierte die Akademikerwelt. Ich bin wissbegierig und wollte mir selbst beweisen, dass ich das Abitur schaffe. Ein Vorteil war: Wir arbeiteten mit Stechuhr. Also machte ich pünktlich um 17 Uhr Feierabend und saß dann ab 18 Uhr nochmal für dreieinhalb Stunden in der Abendschule. 4-Tage-Woche oder Sabbatical – sowas war damals noch nicht üblich.

Das klingt anstrengend.

Ich habe es aber nicht so empfunden. Alle waren motiviert und wollten dieses Zeugnis in den Händen halten. Wir lernten zusammen und gingen anschließend noch was Trinken. Einer meiner Mitschüler war Francis Kéré. Damals war er noch nicht der preisgekrönte Architekt, sondern das einzige von 13 Geschwistern, das in seiner Heimat Burkina Faso eine Schule besucht hatte. Mit einem Stipendium kam er nach Berlin an die Abendschule. Francis sagte damals: Bildung ist so ein Geschenk. Er hat total Recht. Welch Geschenk, dass wir in Deutschland Institutionen haben, in denen man sich Bildung einfach so abholen kann. Meinen Eltern habe ich nie erzählt, dass ich Abitur habe. Sie haben sich dafür nicht interessiert.

Brigitte Finke steht in einem Treppenhaus

Viele Wege führen zum Ziel

Fernstudium, Studieren mit Kind, Studieren 50 plus, Samstagsschule – Bildungswege werden immer individueller und entsprechend vielfältig ist auch das Angebot. Allein die Anzahl der Studiengänge hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt, 20.000 verschiedene Studiengänge stehen aktuell zur Auswahl. Insbesondere private Hochschulen bemühen sich nach passgenauen Formaten für ihre Studierende, sagt Bildungsexpertin Haas vom LIfBi. Vor der Jahrtausendwende war bereits der Weg an eine Hochschule beschwerlich. Spät abends wurden Klassenräume aufgeschlossen und zur Abendschule umfunktioniert. Brigitte Finke erzählt, dass an ihrer Abendschule in Berlin oft das Klopapier fehlte.

Sie haben das Abitur mit einer 1 vor dem Komma bestanden. Damit hätten Sie nahezu jedes Studienfach studieren können, aber machten es nicht. Warum?

Kurzzeitig war ich sogar an der Humboldt-Universität für Französisch eingeschrieben. Ich ging aber nie zu den Vorlesungen. Mir fehlte der Mut, meine Anstellung aufzugeben und mich auf das Studium zu konzentrieren.

Ihre Bildungsbiografie in den folgenden zehn Jahren ist schnell zusammengefasst. Sie lernten Ihren Mann kennen, einen studierten Maschinenbauingenieur. Er bekam ein Jobangebot in Bamberg, gemeinsam zogen Sie um, bekamen zwei Kinder. Solange die Kinder klein waren, arbeiteten Sie in Teilzeit oder gar nicht.

Der Wiedereinstieg war schwer. Auf einmal stand ich vor einer Gruppe Kindergartenkinder und leitete Spielestunden auf Englisch an. Dafür war ich weder fachlich ausgebildet noch geeignet. Irgendwann schickte ich eine Bewerbung an die Universität Bamberg – aber nicht, um zu studieren. Ich wurde als Assistentin am Lehrstuhl für Empirische Bildungsforschung eingestellt. Der Gedanke, selbst nochmal zu studieren, kam erst im Zusammenhang mit einem Türkei-Urlaub.

Das müssen Sie genauer erklären.

Mich fasziniert die Türkei. Vor dem Urlaub wollte ich mehr über das Land und die Sprache lernen und besuchte einen Sprachkurs an der Volkshochschule. Weil dort keine Fortgeschrittenen-Kurse angeboten wurden, habe ich an der Universität Bamberg einen Türkischkurs belegt. Ich habe mich von Anfang an willkommen gefühlt, aber hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht, ein Bachelorstudium aufzunehmen. Die Türkisch-Klausuren habe ich interessehalber einfach mitgeschrieben.

Und trotzdem haben Sie heute ein Bachelorzeugnis. Wie kommt es?

In kleinen Schritten habe ich mich vorgetastet. Wer untrainiert ist, wird auch nicht mit der Marathondistanz einsteigen. Die abgeschlossenen Module haben mich angespornt, weiterzumachen. Doch es gab auch Zweifel. So meinte die Studienberatung zu mir: Übernehmen sie sich da mal nicht, so ein Studium macht man nicht einfach mal parallel zu einem Job, doch da war ich in meinem Ehrgeiz schon nicht mehr zu stoppen. Weil Turkologie an der Universität Bamberg nicht als Bachelorstudiengang angeboten wird, habe ich mich für »Islamischer Orient« eingeschrieben. Mit der Erfahrung, Klausuren ohne allzu große Anstrengung zu bestehen, habe ich mit dem Tag der Einschreibung bereits zielstrebig auf den Bachelorabschluss hingearbeitet, also ab diesem Zeitpunkt nicht mehr »vorgetastet«.

Brigitte Finke läuft aus einer dunkelgrünen Tür raus

Der späte Weg an die Universität

Mit dem Abiturzeugnis direkt in den Hörsaal. Das ist für die meisten der Weg. Doch immer mehr Menschen entscheiden sich, zu einem späteren Zeitpunkt ihr Studium aufzunehmen. Im Wintersemester 2022/23 waren etwa 19 Prozent der eingeschriebenen Studierenden 30 Jahre oder älter. Wer nach seiner Ausbildung ein Studium anschließt, baut oft auf seiner Ausbildung auf und möchte später Positionen besetzen, für die ein Studium vorausgesetzt wird, sagt Bildungsforscherin Haas. Die klassischen Beispiele: Der Bürokaufmann studiert BWL, die Erzieherin studiert Erziehungswissenschaft und übernimmt anschließend eine Leitungsposition in einer pädagogischen Einrichtung. Dahingegen ist die Gruppe von Studierenden, die mit über 50 Jahren erstmals ein Studium aufnehmen überschaubar und ihre Motivation kaum erforscht. Im Berufsleben macht sich die Investition in ein Studium zu so einem späten Zeitpunkt nur selten bezahlt.

Wie hat ihr Umfeld auf ihr spätes Studierendenleben reagiert?

Ich hatte immer die Rückendeckung meiner Familie, auch in stressigen Lernphasen. Nur im gemeinsamen Urlaub, wenn ich die Lernunterlagen wieder dabeihatte, meinte mein Mann ungeduldig: Bist du jetzt fertig? Aber Studierende sind nie fertig. Es gibt immer noch irgendwas zu lesen, zu lernen oder zu tun. Das sehe ich ja bei meinen Kindern, die beide aktuell studieren. Ich glaube ich kann mich recht gut in sie hineinversetzten, weil ich verstehe, dass man in Prüfungsphasen mies gelaunt ist oder mal ein Familientreffen absagt.

Viele Studierende lernen am besten nachts und mit viel Club Mate.

Ich nicht. Auch die Studi-Partys habe ich alle sausen lassen.

Nach Ihrem Bachelorabschluss arbeiten Sie als Forschungsassistentin am LIfBi. Wie hilfreich ist das Studium für den Berufsalltag?

Formal ist ein Bachelor Voraussetzung für meine aktuelle Tätigkeit. Ich habe im Nebenfach noch BWL studiert und später noch einzelne Informatikmodule absolviert, dadurch habe ich ein grundsätzliches Verständnis für Statistik. Ich verstehe die Filterführung unserer Befragungsinstrumente und weiß, was eine For-Schleife ist. Auch wenn es für alle Themen nochmal Experten gibt, finde ich es wichtig, zu wissen, wie andere arbeiten. Im aktuellen Projekt geht es beispielsweise um Bildungswege von geflüchteten Kindern und Jugendlichen und ich koordiniere die Übersetzungen. Dafür muss ich nicht fließend Arabisch sprechen. Aber es hilft, die arabische Schrift entziffern zu können.

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