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LEIBNIZ Frau Riese, Sie haben ein Buch geschrieben – obwohl Sie eigentlich Referentin an einem wissenschaftlichen Institut sind. Wie kam es dazu?

DOROTHEE RIESE Das Manuskript habe ich fertig geschrieben, noch bevor ich begann als Referentin zu arbeiten. Ich wusste schon immer, dass ich schreiben will. Als Kind war ich nicht gut im Tanzen oder Schauspielern, aber konnte dafür mit Sprache umgehen. Ich hatte die naive Vorstellung, Dichterin zu werden. Im Schreiben konnte ich mich ausdrücken. An meinem Buch habe ich lange gearbeitet, mit vielen Unterbrechungen. Aus den Fragmenten entstand dann etwas Ganzes.

In Ihrem Roman »Wir sind hier für die Stille« zieht die fünfjährige Judith Anfang der 1990er Jahre mit ihren Eltern weg aus dem deutschen Luftkurort Bad Rosau nach Sarmizegetusa in Transsilvanien. Auch Ihre Familie ist damals nach Rumänien ausgewandert. Wie autobiografisch ist Ihr Roman?

Das Buch ist radikal persönlich. Der Roman ist ein Versuch, das Erinnerte auf sein Wesentliches abzuklopfen. Autobiografisch scheint mir nicht der passende Begriff, denn es ist keine lineare Biografie. Die Grundkonstellation basiert zwar auf Erfahrungen, die ich als Kind gemacht habe, und auch die Züge der Menschen, die ich kennenlernen durfte, finden sich in den Figuren teilweise wieder. Aber was im Buch passiert, hat ein Eigenleben, die Mythen und Symbolik, die vorkommen, sind von meiner persönlichen Geschichte losgelöst.

Wie sah Ihr Leben vor dem Umzug aus?

Ich bin in einer Kleinstadt im Eichsfeld an der Grenze zur DDR geboren. Meine Eltern waren Freigeister, sie führten ein alternatives Leben und waren in der Friedensbewegung, meine Mutter nahm ein Pflegekind auf und arbeitete in einem Bioladen, mein Vater gründete eine freie Musikschule und einen sogenannten »Friedenshof«. Das war ein Begegnungsort für Pazifist:innen, die mit alternativen Lebensformen experimentierten, also im Bauwagen oder in Kommunen wohnten. Meine Eltern folgten fast keinen gesellschaftlichen Konventionen, sie lebten ohne Festanstellung, suchten mir Freund:innen, die nach Deutschland geflüchtet waren, sie ließen mich durch den Ort stromern. Ich hatte viele Freiheiten.

Warum wollten Ihre Eltern weg aus Deutschland – und welche Hoffnung hatten sie im Gepäck?

Meine Eltern kannten eine Rumänien-Initiative in Dresden, die Hilfstransporte ins Land organisierte. Der Beschluss wegzuziehen hatte aber nicht mit einem Jobangebot zu tun, das war ihre eigene Entscheidung. Der Schritt, in ein neues Land auszuwandern, enthielt eine beinahe missionarische Form der Hoffnung. Da schwang auch etwas Religiöses mit, schließlich ist Hoffnung eine christliche Tugend. Die Familie in meinem Roman sucht Glück, einen Neuanfang und ein einfaches Leben. Das wollten meine Eltern auf jeden Fall auch.

Im Roman geht es vor allem um ein Suchen nach Stille.

Sie müssen sich vorstellen, das Buch spielt in den 1990er Jahren, das war eine andere Zeit als heute. Die Familie trifft auf ein Rumänien, wo der Staat, die Wirtschaft und auch die Gesellschaft gerade zusammengebrochen sind. Alles befindet sich im Umbruch – aber dieser hat sich noch nicht in Bewegung übersetzt. Der Bus fährt nicht mehr, der Mähdrescher geht kaputt, die Häuser stehen leer, nichts funktioniert. Das ist ein Stillstand, den die Familie als wohltuend empfindet. Sie sehnen sich nach der Stille, im Gegensatz zur schnelllebigen, kapitalistischen Welt, aus der sie kommen.

Der Schritt, in ein neues Land auszuwandern, enthielt eine Form der Hoffnung.

DOROTHEE RIESE 

Und wie ist das bei Ihnen?

Ich glaube, wir alle brauchen Stille. Die Sehnsucht der Eltern im Buch ist mir nicht fremd. Diese ruhige, gemächliche Welt suche ich selbst manchmal, aber in der Realität gibt es sie so nicht. Meine Eltern projizierten ihre Hoffnung, den Kapitalismus und vielleicht auch die deutsche Herkunft hinter sich zu lassen und in einer Gemeinschaft der Gleichen zu leben, auf diesen anderen Ort. Wir empfanden das Leben dort zunächst als Stille, weil wir die Geschichte der Gegend und der Leute nicht kannten. Man sieht die Unruhen am Anfang nicht, die unter der Oberfläche brodeln. Wenn ich mit ukrainischen Kolleg:innen darüber spreche, wie sie Deutschland wahrnehmen, dann sagen sie: furchtbar langsam – die Deutschen hätten es nicht eilig. Wenn man aus einer Kriegsregion kommt, dann empfindet man es hier eben als ruhig. Wir hingegen fuhren nach Rumänien und fühlten uns entschleunigt.

Im Buch erwartet die Familie zu Beginn eine fast utopische Gemeinschaft: Am ersten Tag bekommen Sie Milch von den Nachbarn geschenkt, eine alte Frau stellt ihnen ein Grundstück zur Verfügung. Doch nur wenig später lernt die Familie die raue Realität in Rumänien kennen: Es herrschen Armut und Arbeitslosigkeit. Welche Hoffnungen haben sich denn bei Ihnen erfüllt, welche nicht?

Ich habe mich dazu entschieden das Buch aus der Kind-Perspektive von Judith zu schreiben, weil mich das Werden eines Blicks, einer Einstellung zur Welt und das Werden von Hoffnung interessierte. Kinder blicken zuversichtlich und voller Neugier auf die Gesellschaft. So war das auch für mich, als wir auswanderten. Ich wuchs in diesem rumänischen Alltag auf und kannte es kaum anders. Ich bin also nicht mit konkreten Hoffnungen hingekommen, im Sinne eines bestimmten, zuversichtlichen Blicks auf die Zukunft, das hat sich dort erst entwickelt. Dazu zählt zum Beispiel die Hoffnung, einen Ort, eine Geschichte, Menschen und Sprachen zu finden, denen ich mich zugehörig fühle. Oder die Hoffnung, dass ich gemeinsam mit meinen Freundinnen aus dem Dorf groß werden würde.

Und wie erging es Ihren Eltern?

Meine Mutter hat die damalige Armut, die fehlende gesundheitliche Versorgung, der mangelnde Zugang der Kinder zum Schulsystem und auch die Gewalt gegen Frauen und Kinder sehr mitgenommen. Sie hat angefangen, einige Kinder aus Familien vom Rand des Dorfes zu versorgen, in der Hoffnung, dass diese ihr Leben neu in die Hand nehmen können. Auch meinen Vater hat die Armut sehr beschäftigt. Er machte Spendenaufrufe und beschrieb darin das Elend im Dorf. Als ich mit dem Schreiben anfing, habe ich mich immer wieder gefragt, wie ich von diesem Elend erzähle. Ich wollte kein poverty porn schreiben, ich wollte die Situation der Menschen nicht instrumentalisieren, das Elend aber auch nicht unter den Tisch kehren. Ich verstehe meinen Vater heute, doch als Kind sieht man das anders. Ich habe die Bestürzung meiner Eltern registriert, gleichzeitig habe ich als Kind meine Freundinnen als auf eine Weise reich wahrgenommen: Sie hatten eine Kuh, einen Hund, Lackschuhe oder einen Fernseher, sie kümmerten sich um kleine Geschwister, kannten Witze und Sprüche oder hatten Geschichten aus dem Dorf zu erzählen. Ich empfand diese Menschen nicht als bemitleidenswert oder arm – und genau diese Erfahrung habe im Buch übersetzt.

Ich glaube, wir alle brauchen Stille.

Foto CHRISTIANE GUNDLACH/PIPER VERLAG 

DOROTHEE RIESE
ist Direktionsreferentin am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) in Leipzig – und hat einen Roman übers Auswandern geschrieben. Wir verlosen drei Exemplare von
»Wir sind hier für die Stille«. Machen Sie mit bei unserem Gewinnspiel

Judith und ihre Eltern merken schnell, dass sie eine privilegierte Position im Dorf einnehmen. Ein Gefühl, das sie in Deutschland kaum kannten. Auch Sie sagen, dass das Schreiben Ihnen geholfen hat, zu hinterfragen, welche Rolle Rassismus und Kolonialismus in Ihrer eigenen Biografie spielen. Inwiefern haben Sie das im Buch verarbeitet?

Das Thema beschäftigt mich seit Jahren. Ich habe Internationale Literaturen, Slawistik sowie Kultur und Geschichte von Mittel- und Osteuropa studiert. Im Studium beschäftigte ich mich viel mit Rassismus gegenüber Roma und machte ein Praktikum bei einer Roma-Menschenrechtsorganisation in Bukarest. Ich hinterfrage diese Schablonen, die ich im Kopf habe, ständig – beruflich und privat. Wie zum Beispiel: Wir sind reich, die sind arm. Oder: Da gibt es Elend, wir müssen etwas tun und die Menschen retten!. Das war mir bereits vor dem Schreiben bewusst, aber vorzudringen, was vor diesen Schablonen war – wie zum Beispiel eine Begegnung eines Kindes aus Deutschland mit einer Romni dann ablaufen würde – das ist wahnsinnig schwer.

2004 ging es für Sie dann zurück nach Deutschland.

Ich war 14, als meine Eltern mit mir nach Naumburg, eine Kleinstadt in Sachsen-Anhalt, zogen. Das hatte mehrere Gründe. In den 1990er Jahren war es in Rumänien noch immer normal, Kinder in Schulen zu schlagen. Das schockierte meine Eltern, sie lehnten dieses autoritäre Schulsystem ab. Und sie wollten, dass ich nochmal andere Entfaltungsmöglichkeiten durch eine freie und liberalere Schulbildung habe. So losgelöst meine Eltern auch von gesellschaftlichen Konventionen waren – es war ihnen auch wichtig, dass ich die Option habe, in Deutschland zu studieren.

Und wie war das für Sie?

Ich ging in Deutschland noch vier Jahre auf die Landesschule Pforta, ein malerisch gelegenes und damals befreiend liberales Internatsgymnasium in Sachsen-Anhalt. Mir wurde davor ständig gesagt, dass der Schulwechsel schwierig sein würde. Ich war also mental vorbereitet. Mir gefiel, dass das Internat einen Sprachenschwerpunkt hatte, ich blieb eine sehr gute Schülerin, war überangepasst. Vielleicht fiel mir der Anschluss deshalb leicht, ich verbuchte das auch als großen Triumph auf meiner Seite. Erst später wurde mir dann bewusst, was für ein Bruch das eigentlich war. Meine Eltern waren in einer sozial schwierigen Lage – sie hatten in Rumänien keine Angestelltenberufe gehabt, nicht viel Geld verdient und mussten in Deutschland wieder komplett neu anfangen. Auch ich fühlte mich manchmal einsam. Ich fragte mich lange, was an mir so anders war.

Haben Sie eine Antwort gefunden?

Meine Eltern hatten sich gegen Geldverdienen entschieden, sie lebten sehr prekär. Viele meiner Mitschüler:innen kamen aus dem ostdeutschen Bildungsbürgertum und waren finanziell sicher aufgestellt. Bei ihnen gab es Familienurlaub, viele besaßen ein Haus, sie fuhren auf den Schüleraustausch nach England. Das war bei mir nicht drin. In Rumänien hatte ich das aber auch nie vermisst.

Was vermissen Sie denn heute an Rumänien?

Vor allem die rumänische Sprache und Denkweise. Im Ort, in dem ich groß wurde, lief immer und überall Manele, eine Art Pop-Musik, die von Roma-Musikern gesungen wird und unter eher nationalistisch eingestellten Rumän:innen verpönt war. Darin geht es um Frauen, Geld, Lügen, Reichtum, oft feiern sie Männlichkeit. Das war mir früher sehr fremd, ich fand das oberflächlich, frauenfeindlich. Jetzt, wo dieser Sound nicht mehr um mich herum ist, vermisse ich es aber, nicht mehr irritiert zu sein. Auch die Schicksalsergebenheit der Menschen im Dorf ist ganz anders als in Deutschland. Dort gibt es das Wort musai, das ist vom Deutschen muss sein über das Ungarische und Rumänische gewandert. Viele nehmen das Leben hin, obwohl es eigentlich untragbar ist. Wenn ich etwas vermisse, dann wohl den Zeitort, also das Rumänien meiner Kindheit. Vielleicht reden die Leute heute dort gar nicht mehr so oder spielen andere Musik. Vielleicht vermisse ich etwas, das bereits Geschichte ist.

Für mich kommt Hoffnung durch Handeln.

Judiths Freundschaft mit Irina, einer jungen Romni, ist ein zentraler Bestandteil des Buchs. Welche Rolle spielten Freundschaften, als Sie in Rumänien gelebt haben, und bestehen diese heute noch?

Ich hatte viele Freund:innen in Rumänien, Irina habe ich aus all diesen Figuren entwickelt. Social Media ermöglicht mir, mit einigen in Kontakt zu bleiben. Viele leben noch dort, andere sind nach Frankreich oder Italien ausgewandert. Es gibt zwar noch einen warmen Kern und Erinnerungen, die uns verbinden, aber jeder lebt nun mal sein Leben. Die Nähe, wie sie mal war, konnte nicht bestehen. Darunter liegt aber eine enge Verbundenheit. Seitdem ich selbst Kinder habe, haben wir uns wieder angenähert. Viele haben sehr früh Kinder bekommen, ich verstehe als Mutter jetzt mehr, was sie durchmachen. Man ist dadurch wieder auf einer ähnlichen Ebene – egal, was für Berufe man erlernt hat, ob man arbeitet oder nicht oder ob man arm oder reich ist.

Wie beurteilen Sie heute die Entscheidung Ihrer Eltern, damals auszuwandern?

Ich glaube, das kann man erst verstehen, wenn man in der Mitte des Lebens ankommt. Meine Eltern sind sehr wagemutige Personen. Die Meinung anderer Menschen war ihnen nie wichtig. Das ist befreiend. Diese Mentalität haben sie mir mitgegeben, dafür bin ich sehr dankbar. Sie wollten einen Neustart, dafür habe ich Verständnis, auch, wenn ich das vermutlich erst in ein paar Jahren richtig begreifen kann. Ich bin Mitte 30, habe Kinder, wohne seit zehn Jahren in Leipzig und bin gerade eher an einem Punkt, an dem ich mir mein Leben endlich eingerichtet habe. Das möchte ich noch genießen. Nach vielen Jahren des Umziehens bin ich sesshaft geworden. Eine Großstadt ist das Gegenteil von Stille, manchmal holt mich auch dieses Fernweh nach dem Landleben ein. Mein siebenjähriges Kind würde gerne auf einem Bauernhof leben. Aber das bleibt bei einer Sehnsucht, ich bin da gerade nicht so flexibel, wie meine familiäre Herkunft das vielleicht nahelegen würde. Auch, wenn ich es anders mache – für mich war das Aufwachsen in Rumänien eine Bereicherung.

Im Buch gibt es eine berührende Szene, in der Judith beschließt, am Grab von Lizitanti – einer alten Romni im Dorf und Freundin von Judith – zu sprechen. Sie sagt, dass sie das Dorf beschützen möchte und fest daran glaubt, dass es weitergeht. Wie kann man trotz aller Herausforderungen und Schwierigkeiten Hoffnung bewahren?

Ich habe ein Buch über sehr hoffnungsvolle Menschen geschrieben: Eltern, die ein neues Leben in der Mitte ihres Lebens aufbauen, wo andere eine Midlife-Crisis haben. Mit meinem Buch möchte ich in den Leser:innen die Hoffnung der Figuren weiterleben lassen: dass ein Neuanfang möglich ist, dass man gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung kämpfen kann, dass Gespräch und Begegnung möglich sind. Ich persönlich bleibe zuversichtlich, indem ich mir kleine Ziele setze – und das Leben mit einem Schmunzeln betrachte. Deshalb hat auch mein Roman teilweise etwas Komisches, Witziges, fast Satirisches. Allerdings finde ich es zurzeit nicht einfach, zu hoffen.

Warum?

Ich habe während des Studiums mehrere Jahre in Russland verbracht, später war ich ein paar Mal in der Ukraine, heute arbeite ich mit Kolleg:innen aus diesen Regionen zusammen. Der 24. Februar 2022 war für mich ein schlimmer Einbruch. Das war, als ob die Hälfte meines Lebens plötzlich in einer Finsternis gelegen hätte. Ein sehr persönlicher Schmerz, obwohl ich selbst davon nicht direkt betroffen bin. Es fällt mir immer noch schwer, mir vorzustellen, wie meine Kinder in so einer Welt aufwachsen werden. Wenn ich morgens aufwache, hoffe ich immer, dass Putin tot ist.

Und wie gehen Sie damit um?

In der Religion bedeutet Hoffnung, dass ein Erlöser kommt oder dass Gott uns rettet. Ich glaube eher, dass man selbst etwas tun muss. Ich glaube daran, dass ich etwas ändern kann. Weil ich kleine Kinder habe, kann ich zurzeit nur Dinge unternehmen, die sich im getakteten Alltag unterbringen lassen. Ich unterstütze zum Beispiel einzelne Menschen, die aus der Ukraine kommen und hier Schutz oder einen Job suchen. Oder ich helfe meinen Freund:innen in Rumänien finanziell aus, damit ihre Kinder weiterhin zur Schule gehen können. Für mich kommt Hoffnung durch Handeln. Kleine Schritte sind am Ende produktiver, als große Entscheidungen zu treffen.

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