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Grauschleier hängen über der Stadt, als wir uns zum Interview treffen. Vom ausgebauten Dachstuhl im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg schweift der Blick über den Mauerpark. Hier oben, in Buhlerts Studio »another room« liegen überall Hörspiele in aufwändigen Schubern: auf dem Klavier, sogar auf dem Cello. Sie alle wurden von Buhlert bearbeitet, inszeniert, vertont. Er ist der Mann für die anspruchsvollen Stoffe, hat Romane wie Musils »Mann ohne Eigenschaften«, Joyces »Ulysses« oder die gesamte »Ilias« nach Homer für den Rundfunk adaptiert. Hans-Ulrich Wagner, Leiter der Forschungsstelle Mediengeschichte am Leibniz-Institut für Medienforschung │ Hans-Bredow-Institut, hat kaum seine Jacke abgelegt, da beginnen die beiden Hörspiel-Enthusiasten noch im Flur ihr Gespräch. Schließlich landen sie vor dem Mischpult. Die bereitgestellten Kekse und Bananenchips rühren sie während des zweistündigen Interviews nicht an, so vertieft sind sie.

LEIBNIZ Herr Buhlert, gibt es ein Hörspiel aus der Anfangszeit des Mediums, das Sie immer noch begeistert?

KLAUS BUHLERT »Der Krieg der Welten« von Orson Welles.

HANS-ULRICH WAGNER Dieses Hörspiel hat angeblich eine Massenpanik ausgelöst. Ich glaube zwar, das ist als Werbemaßnahme hochstilisiert worden, aber allein die Tatsache, dass diese Legende funktioniert, zeigt wie wirkmächtig das Medium Radio war. Mich fasziniert diese starke Zuschreibung von Authentizität: Was ein Reporter beschreibt, muss real sein. Dieser Mechanismus ist hochspannend! 

BUHLERT Einen ähnlichen Fake habe ich auch mal probiert: Ein angeblicher Bundeswehroffizier nimmt vor laufenden Mikrofonen den Komiker Wigald Boning als Geisel und stellt Forderungen. Die Schauspieler und Nachrichtensprecher haben alle gut mitgespielt, aber trotzdem war es eine riesige Herausforderung, das glaubwürdig hinzubekommen.

WAGNER Tatsächlich beginnt die Hörspielgeschichte 1924 mit genau dieser Idee: In »Zauberei auf dem Sender« von Hans Flesch will die Märchentante ins Abendprogramm und unterbricht die reguläre Sendung. Es folgen Pleiten, Pech und Pannen. Das Interessante ist: Die Groteske wird genutzt, um den Alltag im Sender zu schildern. Erst durch die Störung verstehen die Hörer, wie es normalerweise abläuft.

BUHLERT Ein schlauer Hund der Hans Flesch!

Mit »Zauberei auf dem Sender« beginnt die Hörspielgeschichte?

WAGNER Der Rundfunk mit Unterhaltungssendungen startet 1923. Dramatische und szenische Spiele, also Literatur im Radio, gab es von Anfang an. Aber »Zauberei auf dem Sender« war etwas Neues, eine in ihrer Originalität herausragende Produktion.

Wie ging es danach weiter?

WAGNER Radio war ein lineares Programmmedium. Eine Sendung folgte auf die andere: Erst Frauenfunk, dann Landfunk, dazwischen die Nachrichten, später Unterhaltungsmusik. Am Anfang gab es nur eine Frequenz, aber sobald es zwei, später drei Wellen gab, entwickelten sich Senderprofile. Das Hörspiel wurde zu einem Aushängeschild, eine eigenständige akustische Kunstform, für die originäre Werke produziert wurden. Die Entwicklung dieser Kunstform dauerte ein paar Jahre. Es gibt dann eine Traditionslinie von den 1930er bis in die 1960er Jahre.

Und diese Traditionslinie gab es in beiden deutschen Staaten?

WAGNER In West und Ost gab es nach dem Krieg den gleichen Ansatz: Das Wort-Kunstwerk im Radio sollte große Gedanken vermitteln.

KLAUS BUHLERT

ist Komponist, Hörspielregisseur und -autor. In den 1980er Jahren forschte er am Massachusetts Institute of Technology und war Gastprofessor für Elektronische und Computer-Musikan der TU Berlin.

HANS-ULRICH WAGNER

leitet die Forschungsstelle Mediengeschichte am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut. Unter anderem forscht er zur Geschichte des Hörspiels und sitzt seit Jahren in den Jurys für die wichtigsten deutschen Hörspielpreise.

Gab es auch Unterschiede?

WAGNER Demokratischer Rundfunk funktioniert nach dem sogenannten Checks-and-Balances-System: Inhaltlich sind die Sender unabhängig von staatlichen Vorgaben, sie haben Programmautonomie. Zugleich sind die öffentlichen Rundfunkanstalten aber beitragsfinanziert und müssen einen gesellschaftlichen Auftrag erfüllen. Zu diesem Auftrag gehört Kultur zwar nicht explizit, aber es gibt eine kulturelle Verantwortung. Die Sender sollen über Kultur berichten und selbst Kultur produzieren. Das literarische Hörspiel als Kunstform ist auf dem freien Markt gar nicht überlebensfähig. Das muss jemand machen, der »alimentiert« ist. Und prinzipiell hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk die politische und gesellschaftliche Verpflichtung, Radiokunst zu machen.

Sind anspruchsvolle Hörspiele ohne staatliche Subventionierung überhaupt möglich?

WAGNER Natürlich gibt es auch eine freie Szene. Und auch viele Schallplattenfirmen haben schon früh Hörspiele produziert, zum Beispiel für Kinder.

BUHLERT »Die drei Fragezeichen« sind immer noch sensationell erfolgreich!

WAGNER Ich will nicht sagen, dass solche Hörspiele keine Kunst sind, aber sie haben doch einen anderen Anspruch als die Hörspiele von Klaus Buhlert. Hörspielkunst kostet richtig viel Geld.

Herr Buhlert, Ihr Hörspiel »Coldhaven« ist laut ARD eines der 100 besten Hörspiele seit Beginn der Hörspielgeschichte.

BUHLERT Ich bin mit dem Autor John Burnside befreundet gewesen. Seine Bücher fand ich immer schon großartig, aber lange haben sie keine richtige Anerkennung gefunden, jedenfalls nicht für Radioproduktionen. »Coldhaven« ist eine vielstimmige Geschichte über ein 15-jähriges Mädchen, das aus einem fiktiven schottischen Dorf verschwindet. Als John mir die Geschichte erklärt hat, war mir war sofort klar: Ich mache die Regie. Und obwohl ich wenig über die schottischen Hintergründe wusste, hat das Stück durch unsere Freundschaft seine Haltung gefunden. Als es fertig war, hat John es sich angehört. Er kann konnte kein Deutsch, aber hinterher sagte er: »That's the spirit!«

»Coldhaven« hat zwei wichtige Preise gewonnen: Es wurde als Hörspiel des Jahres 2017 ausgezeichnet und erhielt 2018 den Hörspielpreis der Kriegsblinden.

WAGNER Ich gehörte damals zur Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden. John Burnside hatte ich vorher nicht auf dem Schirm. Ich war überrascht, im positiven Sinn, ja: irritiert. Ich freue mich immer, wenn mich ein Stück provoziert. Meistens hören wir in solchen Jurys ja auch Stoffe, die wir in irgendeiner Form schon zigmal gehört haben.

Der Hörspielpreis der Kriegsblinden ist die wichtigste Auszeichnung für deutschsprachige Hörspiele. Die Jury bestand lange Zeit zur Hälfte aus blinden »Laien« und zur anderen Hälfte aus professionellen Kritikern und Publizisten.

WAGNER Zu Beginn saßen in der Jury Kolleginnen und Kollegen, die durch kriegerische Ereignisse erblindet waren. Das waren meist ehemalige Soldaten, aber auch Personen, die als Kinder in den Ruinen der Nachkriegszeit gespielt haben und durch detonierte Blindgänger ihr Augenlicht verloren haben. 

Blinde Menschen rezipieren Hörspiele sicher anders als Sehende. Herr Buhlert, müssen Sie sich manchmal selbst limitieren, um Hörspiele erzählen zu können?

BUHLERT Nein, ich habe immer gewusst, dass es für mich sehr wichtig ist, keine Bilder zu erschaffen, sondern Dinge sprachlich in die Welt zu setzen. Jeder kann sich sein eigenes Bild dazu machen. Ich schreibe keine Bilder vor, sondern erschaffe Klangräume und Textzustände – Assoziationen für meine Welt oder die des Hörers. Das ist ein grundlegender Unterschied zu einer Bilderwelt: Klang-Landschaften erzeugen kein festgelegtes »Image«. Zu meinen Hörspielen könnte eine künstliche Intelligenz sicherlich viele unterschiedliche Bilder generieren. Bei »Coldhaven« zum Beispiel war es eine imaginierte Welt: Schottische Mystik, geschichtliche Zusammenhänge. Dazu gibt es keine Bilder mehr, nur Assoziationen.

WAGNER Das ist Hörspiel »at it‘s best«. Früher hat man von der »inneren Bühne« gesprochen. Autor und Regisseur entwerfen Szenen und setzen sie akustisch um. Der Hörer erschafft dann seine eigenen Bilder dazu im Kopf. Bis in die 1960er Jahre war das ein wichtiger Teil der Hörspieltheorie. Dann kamen neue Ideen aus der Klangwelt hinzu. Das konnte Musik sein, aber auch alle anderen sonischen Elemente.

Sonisch?

WAGNER Alles, was tönt.

BUHLERT Sprache, Sound, Musik: im englischen »sonic«.

WAGNER Alles, was ich über meine Ohren wahrnehmen kann. Die Frage ist: Unterscheidet sich das, was wir da hören, bei mir und bei meinem blinden Kollegen?

BUHLERT Sonic ist nicht nur der Klang als Solcher. Hinzu kommt noch das Assoziative, zum Beispiel durch Seherfahrungen. Das erklärt, warum Blinde das Gehörte anders beschreiben als Sehende. Die Rezeption von Klang ist für mich fast etwas Mystisches: Es schwingt so viel Persönliches mit. Das Nervensystem spielt eine Rolle. Es können viele Abweichungen von der angestrebten Intention auftreten, mit guten oder schlechten Folgen, sodass jeder sein eigenes Hörerlebnis hat, sein individuelles inneres Bild sieht. Man sollte nie unterschätzen, dass jeder Mensch individuell hört. Was der eine als lustvolles Stöhnen hört, empfindet ein anderer als schmerzliches Stöhnen.

Spielt es für Sie eine Rolle, dass die Menschen Ihre Stücke heute anders hören als früher?

BUHLERT Unsere Welt ändert sich gerade radikal: Sie wird laut, sie wird unspezifisch. Auch die Sprache verändert sich: Sie wird indifferent. Im Augenblick leidet darunter besonders das Radio.

WAGNER Transformationsprozess nennen Wissenschaftler das.

Könnte das Hören »on-demand« eine Chance für anspruchsvolle Hörstücke sein?

WAGNER Natürlich stellt sich die Frage: Wann schaffe ich es, das 60-minütige Buhlert-Hörspiel zu hören? »On demand« bietet die Möglichkeit, dass ich das technisch gesehen jederzeit abrufen und hören kann. Aber welches Öko-System müssen wir erhalten oder schaffen, damit ein kunstvolles Hörspiel in unserer sonischen Umwelt »on air“ wahrgenommen werden kann, damit Menschen es interessant und bereichernd finden?

BUHLERT In Deutschland leisten wir uns das anspruchsvolle Hörspiel, im Gegensatz zu anderen Ländern. Für mich heißt das zugleich: Wir leisten uns eine kulturelle Heimat. Hörspiele sind Teil einer kulturellen Heimat, genauso wie Theater. Wenn wir uns in irgendeiner Weise kulturell heimisch fühlen, geht es uns besser und auch unsere Gesellschaft funktioniert besser, weil der Austausch zwischen uns und mit der Welt besser ist. Kunst und Kultur sind wichtig für den sozialen Frieden. Wir müssen sie uns einfach leisten.

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