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ISABELLA HELMREICH
ist psychologische Psychotherapeutin und leitet den Bereich »Wissenstransfer« am Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz.

LEIBNIZ Frau Helmreich, Push-Nachrichten verkünden uns täglich, wie Trump und seine Bros in den USA die Demokratie aushöhlen. Wir lesen News, wie rechtspopulistische Parteien in Deutschland und ganz Europa erstarken. Was macht das mit uns?

ISABELLA HELMREICH Wir fühlen uns hilflos, als hätten wir die Kontrolle über unser Leben verloren. Kontrolle ist eines unserer Grundbedürfnisse. Solche Nachrichten machen uns Angst, weil wir weder wissen noch beeinflussen können: Was hat Trump jetzt vor? Was passiert in Gaza? Was macht der aktuelle Rechtsruck mit unserer Gesellschaft?

Ist die Gegenwart besonders schlimm, oder war schon immer irgendwo Krise?

Zwischen der Weltwirtschaftskrise 2008 und der Coronapandemie war das Weltgeschehen relativ stabil. Nun leben wir in Zeiten von Multikrisen: Eine neue Krise bricht aus, während die alten noch gar nicht beendet sind. Wir sind es nicht gewohnt, so viele unterschiedliche Bedrohungen von verschiedenen Seiten wahrzunehmen. Dazu kommen Dauerkrisen wie der Klimawandel.

Es gibt das Phänomen der Stressimpfung, das besagt: Mit jeder Krise, die wir bewältigen, lernen wir etwas dazu. Wir haben Corona überstanden! Sind wir jetzt abgehärtet?

Viele ältere Menschen, für die Corona nicht die erste Krise war, konnten mental besser mit der Pandemie umgehen. Aber die Pandemie hat uns nicht vor weiteren Krisen gewappnet. Dafür war sie zu traumatisch für viele Menschen. Gerade die Jungen hat das Virus nachhaltig verunsichert. Sie mussten ihr ganzes Leben umkrempeln und hatten Sorgen: Schaffe ich remote mein Abi? Wie geht es mit dem Studium weiter? Verliere ich meinen Job? Nach der Pandemie dachten wir, jetzt sei erst mal Schluss und wir könnten uns erholen. Dann begann der Krieg in der Ukraine.

Warum haben wir Angst vor Dingen, die so weit weg sind? Man könnte doch meinen: Was Trump in den USA macht oder was in der Ukraine passiert, betrifft mich erst mal gar nicht.

So weit weg sind die Krisen ja nicht. Die Ukraine liegt mitten in Europa, und die USA sind ein enger Verbündeter Deutschlands. Je näher der persönliche Bezug, umso mehr ängstigt uns eine Krise. Dazu kommt: Junge Menschen haben oft sehr viele Informationsquellen: TikTok, YouTube, das Fernsehen, Nachrichtenseiten. So kann sich alles wahnsinnig nah anfühlen, auch Ereignisse, die Tausende Kilometer entfernt stattfinden.

Eine Gruppe an Vögeln im Himmel.
Foto CRISTINA GOTTARDI/UNSPLASH

Was macht das mit unserer Psyche?

Die Unsicherheit und die erhöhte Alarmbereitschaft stressen uns. Im Jahr 2012 betrug die Zahl der Krankheitstage wegen psychischer Belastungen in Deutschland zusammengerechnet noch rund 65 Millionen. Im Jahr 2023 waren es 132 Millionen Tage, mehr als doppelt so viele. Immer mehr Angestellte lassen sich aufgrund von Stress, Ängsten oder Depressionen krankschreiben. Denn uns belasten nicht nur die Krisen selbst. Hinzu kommen etwa unsichere Arbeitsbedingungen oder mangelnde Kompetenzen zur Selbstfürsorge.

Wie geht man denn gut mit diesen Gefühlen um, etwa mit der Angst vor dem Kontrollverlust?

Erst mal ist es wichtig, anzuerkennen, dass diese Gefühle da sind. Viele fühlen sich diffus unwohl, können aber nicht einordnen, was eigentlich los ist. Dann kann es guttun, dem Gefühl einen Namen zu geben. Etwa zu sagen: Ja, ich habe Angst vor einem Krieg oder Ich habe das Gefühl, nicht mehr die Kontrolle über mein Leben zu haben. Das erleichtert und hilft, das Gefühl zu akzeptieren. Es ist normal, in bedrohlichen Situationen Angst zu haben. Aber man sollte sich von der Angst nicht überschwemmen lassen.

Haben Sie einen konkreten Tipp, wie man Angst loswird?

Übungen wie expressives Schreiben können helfen. Man setzt sich hin und schreibt alle Gedanken und Gefühle auf, die einem gerade im Kopf herumschwirren. Damit sie einfach mal raus sind. Vielen hilft auch das Fünf-Spalten-Schema. Dafür teilt man ein Blatt in fünf Spalten ein. In die erste schreibt man die Situation, in der man sich befindet. In die zweite kommen die Gedanken zur Situation und in die dritte die Gefühle, die man damit verbindet. Für die vierte Spalte betrachtet man das Geschriebene rational und versucht, alternative Gedanken zu formulieren. Wenn es etwa um den Krieg in der Ukraine geht: Wie realistisch ist es wirklich, dass er sich auf Deutschland ausweitet? Zurzeit ist das eine eher unrealistische Annahme. Optimistischer wäre deshalb ein Gedanke wie: Die Politiker:innen der EU tun alles dafür, dass der Krieg in der Ukraine nicht auf andere Staaten übergreift. In die fünfte Spalte schreibt man, welche Gefühle der neue Gedanke auslöst: Bin ich weniger ängstlich? Dann ist dieser Gedanke hilfreicher als der Angstgedanke aus Spalte zwei. Je mehr man das übt, desto besser kann man mit schwierigen Gedanken umgehen.

Portraitbild Isabella Helmreich
Foto DAWIN MECKEL

Man sollte sich von der Angst nicht überschwemmen lassen.

ISABELLA HELMREICH

Redet man so nicht einfach seine Angst klein?

Man befreit sich aus einer negativen Gedankenspirale. Unser Gehirn ist aus Evolutionsgründen auf Gefahren fokussiert und kommt schnell in den Alarmmodus. Wir können kognitiv eingreifen, um uns zu beruhigen. Im Umgang mit Gefühlen gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir schwächen sie ab, oder wir wandeln sie um. Wenn man sich etwa über den kaputten Aufzug im Wohnhaus ärgert, weil man schwere Einkaufstaschen zu tragen hat, kann man versuchen, das umzumünzen. Etwa mit Sätzen wie: Dann nehme ich halt die Treppen, das tut mir gut. So kann man im besten Fall seinen Ärger in Freude umwandeln.

Funktioniert das auch bei der Angst vor Krieg oder dem weiteren Erstarken der AfD?

Wir können auch diese Gefühle in etwas Produktives umwandeln, uns von ihnen aktivieren lassen. Die Forschung nennt das entgegengesetztes Handeln. Wer zum Beispiel mit der politischen Situation unzufrieden ist, kann etwa auf Demos gehen oder sich in der Politik engagieren. Wer Geflüchteten oder Kindern in Armut helfen will, kann sich zur Nachbarschaftshilfe anmelden oder ehrenamtlich in einer Schule engagieren. Viele spenden an Organisationen wie die UN-Flüchtlingshilfe oder an kleinere Vereine in der Nähe. Wer noch mehr tun will, kann auch selbst einen Verein gründen oder ein Fach studieren, das zum Beispiel helfen könnte, die Klimakrise zu entschärfen. Egal ob es große oder kleine Dinge sind: Im großen Weltgeschehen bekommt man das Gefühl, etwas verändern zu können, sobald man etwas tut. Ein Sandkorn kann eine ganze Düne ins Rutschen bringen. Gesellschaftliches Engagement ist wichtig für unsere Psyche.

Reicht es auch, wenn ich vom Bett aus Social-Media-Beiträge zur Situation in Gaza oder der Ukraine teile?

Das ist eine Frage des Gewissens und der Machbarkeit. Engagement lässt sich nicht einteilen in genug oder nicht genug. Es kommt auf die persönliche Situation an. Wer sich um Kinder kümmern muss oder Medizin studiert, hat natürlich weniger Zeit. Manche Menschen haben viel Energie, andere weniger. Wer helfen möchte, sollte versuchen, das im Rahmen seiner Möglichkeiten zu tun.

Manche reagieren auf Krisen mit News-Avoidance und meiden schlechte Nachrichten. Wie kann man informiert bleiben, ohne sich überflutet zu fühlen?

Indem man etwa seinen Nachrichtenkonsum auf gewisse Zeiten einschränkt, die Push-Nachrichten abschaltet oder nur zweimal am Tag die Nachrichtenapp öffnet. Am besten schaut man nicht gleich nach dem Aufwachen aufs Handy, sondern hört beim Zähneputzen erst mal sein Lieblingslied oder liest beim Kaffeetrinken ein paar Seiten in einem Buch. Dasselbe gilt für den Abend: Wer kurz vorm Schlafengehen News aus der Ukraine, Gaza oder dem Bundestag liest, beeinträchtigt seinen Schlaf.

Engagement lässt sich nicht einteilen in ›genug‹ oder ›nicht genug‹.

Ist es nicht unrealistisch, nur zweimal am Tag News zu checken?

Wichtig ist, seinen Medienkonsum im Blick zu haben. Wie oft schaue ich auf mein Handy? Auf welchen Kanälen informiere ich mich? Wie ist meine Stimmung dabei? Oft stellt man dann fest, dass manche Kanäle einem nicht guttun. Es kann motivierend sein, seinen Medienkonsum zu verändern und auszumisten.

Auf Social Media gibt es viele weitere Vorschläge, mit politischen Krisen umzugehen: Sport machen, darüber reden. Bisschen zu einfach, oder?

Nein, das ist super. Das sind Dinge, die man immer tun sollte, schon als Grundlage für seine Resilienz, also der Fähigkeit, mit Stress, Krisen oder Schicksalsschlägen so umzugehen, dass man dabei nicht dauerhaft psychisch erkrankt oder daran zerbricht.

Und wer sie hat, ist mental stabil?

Selbstfürsorge ist die Grundlage für alles. Sie basiert auf vier Säulen: Körper, Psyche, Sozialleben und Spiritualität. Selbstfürsorge kann heißen, auszuschlafen, mit Freund:innen in die Kneipe zu gehen oder mit seiner Mutter Wahlergebnisse zu diskutieren. Für andere ist es Boxen oder ein Spaziergang mit dem Hund. Es bedeutet, zu tun, worauf man Lust hat, nicht, zu tun, was getan werden muss. Es hilft schon, gesund zu essen, darauf zu achten, nicht ständig übermüdet zu sein und sich regelmäßig Pausen zu gönnen. Die Säulen wirken in Krisen wie ein Puffer. Um seine Resilienz auszubauen, gibt es Onlinekurse, etwa am Leibniz-Institut für Resilienzforschung, an dem ich arbeite, und bei manchen Krankenkassen.

Wäre es auch okay zu sagen: Ich informiere mich gar nicht mehr, weil mir das nicht guttut?

Kurzfristig kann Verdrängung helfen, langfristig ist es eher hinderlich. Das Gefühl des Kontrollverlusts wird man damit nicht los. Ich finde es auch moralisch schwierig, zu sagen: Das interessiert mich alles nicht mehr. So eine Einstellung tut dem Einzelnen kurz gut, ist aber schlecht für die Gesellschaft. Viele Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer religiösen oder sexuellen Orientierung im Alltag diskriminiert werden, haben gar nicht die Möglichkeit, politische Krisen zu verdrängen. Sie sind direkt betroffen vom Rechtsruck, von Rassismus oder Diskriminierung, die mit all den Krisen einhergehen. Wenn einem Gerechtigkeit wichtig ist, sollte man das nicht ausblenden, sondern ein Ally werden.

Das Interview ist zuerst in ZEIT Campus Nr. 02/2025 erschienen.

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