LEIBNIZ Frau Thiel, Nachrichten und Bilder des Kriegs in Nahost sind allgegenwärtig. Kinder und Jugendliche begegnen ihnen zum Beispiel auf Instagram und TikTok – wo sie meist ohne erwachsene Begleitung unterwegs sind. Sie haben sehr zeitnah nach dem 7. Oktober 2023 untersucht, wie Jugendliche Kriegsbilder und -videos auf Social Media wahrnehmen. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
KIRA THIEL Bisher wissen wir nur wenig darüber, mit welchen Kriegsinhalten junge Menschen über die sozialen Medien in Berührung kommen und wie sie sie wahrnehmen. Wir hatten aber den Eindruck, dass sie auf Social Media mit viel expliziteren Inhalten in Berührung kommen als über die journalistische Berichterstattung. Auf Social Media kursiert eine wilde Mischung unterschiedlichster Inhalte in unterschiedlichsten Darstellungsformen und von unterschiedlichsten Absendern: journalistische Beiträge, Clips von Betroffenen, Solidaritätsbekundungen von Influencer:innen oder Inhalte der Kriegsparteien, zum Beispiel Videos, die Hamas-Terroristen mit Bodycams aufgenommen haben. Weil wir schon für andere Projekte mit einer Hamburger Schule kooperieren, hatten wir die Idee, direkt mit den Jugendlichen über ihre Erfahrungen und Einschätzungen zu sprechen: Wie häufig kommen sie mit Kriegsinhalten in Kontakt? Und welche Rolle spielen sie in ihrem Medienalltag?
Wie haben die Jugendlichen auf ihre Forschungsfragen reagiert?
Wir haben den Jugendlichen angemerkt, dass das Thema sie beschäftigt: Sie haben Gesprächsbedarf zum Nahostkonflikt und seinen Hintergründen, aber auch zu den Inhalten auf Social Media. Die Jugendlichen haben uns erzählt, Inhalte sie sich angeschaut haben, unter anderem Bilder von verletzten Kindern und Videos von den Geiselnahmen in Israel und der Zerstörung in Gaza.
Wie sind die Jugendlichen denn mit diesen Bildern und Videos umgegangen? Schalten sie zum Beispiel Kanäle ab, wenn ihnen die Inhalte zu heftig sind?
Viele Jugendliche sind sich bewusst, dass eine längere Verweildauer auf einem bestimmten Video dem Algorithmus ein Interesse für ähnliche Inhalte signalisiert. Sie schauen Videos nicht bis zum Ende, um nicht ständig solche Aufnahmen angeboten zu bekommen. Wenn man bei TikTok ein Video nicht zu Ende schauen will, kann man es einfach »wegwischen« und zum nächsten Video übergehen. Allerdings sind die Videos meist recht kurz und steigen sehr unvermittelt ein – »Abschalten« ist da gar nicht so einfach.
Die Grenze zwischen Propaganda, Meinung und verlässlichen Informationen verschwimmt schnell.
KIRA THIEL
Wieviel glauben die Jugendlichen denn von dem, was sie im Internet sehen?
Ich fand es interessant, dass viele Jugendliche von sich aus Begriffe wie »Fake News« oder »Propaganda« in den Raum geworfen haben, was auf ein gewisses Bewusstsein für diese Phänomene hindeutet. Es hat sich auch gezeigt, dass viele Jugendliche sich sehr sicher sind, »Fake-Motive« zu erkennen. Als wir nachgefragt haben, wie sie das machen, haben sie gesagt: Ich gucke, von wem der Post kommt.
Allerdings ist es selbst für ausgebildete Journalistinnen und Journalisten in einem »Krieg der Bilder und Narrative« eine Herausforderung, Quellen zu verifizieren und gefälschte Inhalte sicher zu erkennen.
Würden Sie Eltern empfehlen, die Mediennutzung zu begrenzen?
Da gibt es kein Patentrezept. Das liegt auch daran, dass die Wahrnehmung von Bildern sehr individuell ist.Es geht nie um die Bilder allein, sondern um das, was sie beim Betrachtenden auslösen. Manche Bilder »verhaken« sich im Gehirn. Man spricht nicht umsonst vom Bild, das einem »nicht mehr aus dem Kopf geht«. Deshalb können nicht nur Inhalte mit Gewalt oder Pornografie problematisch sein, um die es in der Diskussion ja häufiger geht. Für Kinder und Jugendliche kann es auch belastend sein, ständig zu sehen, wie schön das Leben der anderen ist, – je nachdem, wie es einem persönlich geht. Auf jeden Fall ist es ratsam, dass Eltern sich damit beschäftigen, ab welchem Alter Kinder TikTok eigentlich nutzen dürfen und inwieweit sie in der Lage sind, mit der Bilderflut und möglicherweise belastenden Inhalten umzugehen. Bei TikTok kann man bestimmte Inhalte oder Hashtags auch blocken. Dafür müssen Eltern aber bereit sein, sich mit der jeweiligen Plattform auseinanderzusetzen. Oft hören wir aber von den Kindern und Jugendlichen: Ach, meine Eltern wissen gar nicht, wie TikTok funktioniert.
Wie kann man Jugendliche dabei unterstützen, sich im Social Web nicht vereinnahmen zu lassen und sie befähigen einen offenen Blick zu bewahren?
Ein Risiko, das im Diskurs rund um Krieg, Krisen und Social Media immer wieder zur Sprache kommt, ist Desinformation. Gerade im Krieg werden Informationen oft ohne Kontext gepostet oder absichtlich manipuliert. Die Grenze zwischen Propaganda, Meinung und verlässlichen Informationen verschwimmt da schnell. Es wird für Jugendliche immer schwieriger, diese Informationen zu bewerten – auch wenn sie selbst durchaus das Gefühl haben, die Glaubwürdigkeit souverän einschätzen zu können. Es ist daher wichtig, dass sie lernen, woran man Desinformation erkennt und redaktionelle Inhalte von Meinungsbeiträgen unterscheiden kann. Auch ist es sinnvoll sich vor Augen zu führen, dass viele Beiträge gezielt auf Klicks und Reichweite ausgelegt und oft bewusst inszeniert sind.
Können die Sozialen Medien denn auch eine positive Rolle für den Umgang mit Krise und Krieg spielen?
Social-Media-Plattformen bieten vielfältige Möglichkeiten, den eigenen Gefühlen Ausdruck zu verleihen und sich mit anderen darüber auszutauschen. In Kriegszeiten gibt es immer viele Solidaritätsbekundungen auf den Kanälen. Auf TikTok können User zum Beispiel auf die Videos anderer Bezug nehmen und sie auch weiterverarbeiten. Das kann eine kreative Art und Weise sein, Anteilnahme auszudrücken. Wenn Kinder und Jugendliche online Solidarität zeigen, sich positionieren und aktiv Anteil nehmen können, erfahren sie Selbstwirksamkeit, die ihnen sonst im Alltag vielleicht fehlt.