Sie halten sich an einem Gesteinsbrocken inmitten der Strömung fest. Das Wasser des Flusses zerrt an ihnen. Sie sind so klein, der Brocken ist in ihrer Welt eine riesige Felswand. Mit einer Art Saugnapf unterhalb des Mundes halten sie sich direkt unter Stromschnellen fest. An einem großen Stein hängen sie dort. Dieses Herumhängen ist eine seltene Art der Anpassung an ihren Lebensraum. Dort fangen sie Nahrung, beispielsweise Algen. Ihren Saugnapf verlieren sie, sobald sie erwachsen, also zum Frosch geworden sind.
Umilaela Arifin stoppt das Video der Kaulquappe auf ihrem Laptop. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Taxonomie und Morphologie des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels in Hamburg. Sie ist Herpetologin, das heißt sie erforscht Amphibien und Reptilien. Vor ein paar Jahren hat Arifin mit einem internationalen Team in den Regenwäldern der indonesischen Insel Sumatra die neue Gattung der Sumatra-Kaskadenfrösche beschrieben und zwei neue Arten entdeckt, deren Kaulquappen im Video zu sehen sind: Sumaterana montana und Sumaterana dabulescens.
Eine dieser Kaulquappen ziert auch den Header von Arifins Website, als wäre sie ihr persönliches Wappen. Sie müssen sich festklammern, um zu überleben und zum Frosch zu werden. Ich lerne von ihnen.
An Arifin zerrt nicht das Wasser eines reißenden Flusses, sondern Ungleichheiten in der Wissenschaftswelt. Sie stemmt sich dagegen.
Die Arbeit von Frauen wird weniger anerkannt, bleibt häufiger unerwähnt. Über Disziplinen hinweg.
Eine Untersuchung von 2021 aus der Fachzeitschrift Herpetologica schätzt, dass in den zehn Jahren zuvor mehr als doppelt so viele herpetologische Studien von Autoren veröffentlicht wurden wie von Autorinnen. Wenn Männer Studien leiteten, war die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sie Mitautorinnen hatten, als wenn Frauen die Verantwortung hatten. In einem 2022 in der angesehenen Fachzeitschrift Nature erschienenen Artikel heißt es, dass die wissenschaftlichen Beiträge von Frauen in Forschungsteams systematisch seltener anerkannt werden. Über Disziplinen hinweg bleibt ihre Mitarbeit häufiger unerwähnt als die von Männern.
Umilaela Arifin erzählt von der 2020 erschienenen Doku Picture a Scientist
, in der Naturwissenschaftlerinnen aus den USA von Mobbing, Rassismus und sexueller Belästigung berichteten. Auch sie kenne Frauen, die solche Erfahrungen machten, sagt sie. Biologinnen seien auf Feldforschungsreisen oft die einzigen Frauen im Team. Mitunter arbeiten sie an abgelegenen Orten, etwa tief im Wald, und müssten an ihre Sicherheit für die weitere Zeit des Trips denken. Das sei einer der vielen Gründe, warum manche zunächst schweigen würden, zumindest bis zur Rückkehr. Arifin hält inne.
Auch sie habe einen Übergriff erlebt, sagt sie. Die Geschichte habe ich bisher niemandem erzählt.
Es war im Nirgendwo. Bei einer Feldforschung, bei der sie Beobachtungen und Daten sammelte. Die Daten waren wichtig für ihre weitere Arbeit. Irgendwie habe es weitergehen müssen.
Berichte über geschlechtsbezogene Gewalt auf Feldforschungen gibt es weltweit. Ein Beispiel: 2023 berichtete Associated Press von Fällen sexualisierter Gewalt auf der McMurdo-Station, der größten Forschungsstation in der Antarktis. Die Vorfälle seien systematisch von Verantwortlichen heruntergespielt worden. 2014 leitete die Anthropologin Kathryn Clancy von der University of Illinois Urbana-Champaign eine internationale Umfrage unter Feldforschenden verschiedener Disziplinen zu geschlechtsspezifischen Erfahrungen, sexueller Belästigung und Übergriffen. Die Ergebnisse zeigen unter anderem, dass Frauen zu Beginn ihrer Karriere am häufigsten betroffen waren. Oft war unklar, bei wem Betroffene den Vorfall hätten melden können. Oder sie meldeten einen Vorfall, hatten aber Probleme mit den Folgen. Dazu gehörten zum Beispiel Retraumatisierungen, Racheakte oder negative Auswirkungen auf den Arbeitsalltag.
Ende 2022 veröffentlichte das Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften die Ergebnisse einer europaweiten Umfrage an 46 Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Demnach haben zwei von drei Mitarbeitenden und Studierenden bereits geschlechtsbezogene Gewalt erlebt. Die Umfrage erfasste unterschiedliche Formen der Gewalt, darunter sexuelle, wirtschaftliche und psychologische. Frauen und nicht-binäre Menschen waren deutlich häufiger als Männer betroffen.

Für Umilaela Arifin haben die Lebensräume von Fröschen und die Welt der Wissenschaft etwas gemeinsam: Ein Ökosystem mit einer großen Artenvielfalt ist stärker als ein Ökosystem, das nur aus einer einzigen Art besteht. Zusammen formen die Arten ein stabileres Netz.
Arifin trug diesen Gedanken ins echte Leben und baute ein Netzwerk aus Frauen ihres Wissenschaftszweigs auf: Mit zwei anderen Wissenschaftlerinnen aus Taiwan und Mexiko gründete sie »Global Women in Herpetology«. Ende 2023 veröffentlichten die drei Frauen ein gleichnamiges Buch. In der Einleitung heißt es: Wir haben uns aus Liebe zu Amphibien und Reptilien gefunden. Sie sind mit einigen unserer eigenen Herausforderungen konfrontiert: übersehen zu werden.
In 50 Kapiteln erzählen 50 Autorinnen aus ebenso vielen Ländern ihre Geschichten. Sie kommen zum Beispiel aus Bolivien, Uganda, Pakistan oder Schweden. Stehen am Anfang ihrer Karriere oder leiten einen Fachbereich an der Universität. Manche erforschen Salamander, Dosenschildkröten oder Giftschlangen. Andere arbeiten im Naturschutz oder in der Bildung. Sie konnten frei wählen, worüber sie schreiben. Die Frauen schreiben davon, wie sie als Kind Kröten sammelten, wie sie ans Aufgeben dachten, von Vorurteilen, von Schlangenbissen, von fehlenden Vorbildern, von schuppigen Geckos, deren Schwanz aussieht wie ein Blatt oder vom Dornteufel, der am ganzen Körper Dornen wie eine Rose trägt. Und sie erzählen davon, wie es ist, in Projekten die einzige Frau zu sein.
Eine Herpetologin im Iran zum Beispiel erzählt, dass sie zu Beginn ihrer Karriere nachts kein Hotelzimmer bekam, weil der Hoteldirektor keine alleinreisende Frau beherbergen wollte. Sie erforscht die Euphrat-Weichschildkröte, deren Nase aussieht wie eine kleine Schweinenase und die mit ihren kleinen Augen auf manchen Fotos etwas ratlos dreinblickt.
Die Botschaft vieler Geschichten: Du bist nicht allein.
Eine Naturschutzgenetikerin aus der Türkei schreibt darüber, wie sie im Studium die Zusage für einen Feldforschungstrip auf der japanischen Insel Yakushima erhielt und ihren Eltern davon erzählte: Ich verreise tausende Kilometer, um die Fäkalien von Affen zu sammeln und zu untersuchen, was sie essen.
Ihre Eltern haben sie unterstützt. Heute erforscht sie die Genetik der Aldabra-Riesenschildkröte.
Trotz aller Schwierigkeiten zieht sich Positives durch die Geschichten: die tiefe Verbundenheit zu den Arten. Die Freude an der Natur. Und die Dankbarkeit für Unterstützende. Die Botschaft vieler Geschichten: Du bist nicht allein. Mit den Einnahmen aus dem Verkauf des Buches finanziert das Netzwerk Stipendien für Wissenschaftlerinnen. Mit dieser Unterstützung können zum Beispiel Forscherinnen aus Ländern zu wichtigen Konferenzen wie dem World Congress of Herpetology fahren, die dort regelmäßig unterrepräsentiert sind. Solche Konferenzen sind besonders für junge Wissenschaftlerinnen wichtig, um ihre Forschung zu zeigen und sich zu vernetzen.
Als Mann sei es nicht unbedingt einfacher, sagt Arifin. Generell seien die Arbeitsbedingungen im akademischen System oft prekär und die Chancen nicht fair verteilt. Was Arifin vor allem antreibt: Wir wollen so gesehen, gehört und geschätzt werden, wie wir sind. Wir wollen unabhängig von Labels sein, die die Gesellschaft uns verpasst: Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht
In Filmen und Büchern gab es immer einen weißen Mann mit Brille und Kittel, der irgendwas in einem Labor werkelt.
Ihre Eltern hätten gewollt, dass sie auf dieselbe Uni wie ihr Bruder geht. Doch die Studiengänge am Institut Teknologi hätten sie nicht interessiert, weder Ingenieurwissenschaft, Elektrotechnik noch Physik. Ihre Eltern hätten gedrängt: Es sei doch so praktisch, sie könnten ihren Bruder und sie in einem Rutsch besuchen. Tief in sich hat Arifin gewusst: Sie hatte keine Wahl, auch weil sie ein Mädchen war und nicht alleine in eine andere Stadt gehen sollte. Du bist immer Teil eines Systems: Teil einer Familie, eines Dorfes, einer Schule, einer Uni.
Sie wollte all diesen Ansprüchen gerecht werden, zugleich habe sie Selbstzweifel gehabt. Was als »gut« gelte, sagt sie, werde allzu oft durch die Systeme definiert, in denen man lebt.
Biologie war schließlich das einzige Fach, das für sie an der Uni infrage kam. In Biologie hatte sie in der Schule die beste Note. Ihre Faszination für die Artenvielfalt Indonesiens und für »Frösche und ihre Freunde«, wie Arifin auf ihrer Website schreibt, fand sie 2004 bei einer dreimonatigen, internationalen Expedition auf der Insel Sulawesi. Zuvor diskutierte sie monatelang mit ihren Eltern, ob sie nun mitgehen dürfe. Fast hätte sie aufgegeben.

Mittlerweile hat Arifin in Hamburg promoviert und fast 20 Forschungsreisen hinter sich. Sie zeigt Fotos und Videos ihrer Trips: Die Gruppe durchquert Flüsse, zeltet und kocht auf dem Waldboden, trinkt Wasser nur durch Filter. Kleidung und Gepäck sind vom Regen durchnässt. In manchen Regionen der Welt sei es mindestens ungewöhnlich, wenn eine Frau nachts draußen unterwegs ist, sagt sie. Zumal im Wald, in Gummistiefeln und nach Fröschen suchend, mit der Kopflampe, Blatt für Blatt. Die gesammelten Frösche werden in einer Art mobilem Fotostudio fotografiert: Man packt ein paar Blätter hinein und den Frosch obendrauf. Danach messen, wiegen, nummerieren.
Ein paar Monate nach dem Gespräch hat Arifin eine Abzweigung von Wald und Labor genommen und arbeitet in der Wissenschaftsberatung. Wer weiß, welche Wege sie wieder zu ihren Fröschen führen. Fest steht: Die Frösche, Schlangen und Echsen dieser Welt brauchen jede Hilfe. Immer noch mangelt es an Daten. Besonders in Regionen und Ländern, in denen es kaum Herpetolog:innen gibt oder Arten in schwer zugänglichen Gebieten leben. Mehr als ein Fünftel aller Reptilienarten und zwei Fünftel aller Amphibienarten weltweit sind vom Aussterben bedroht. Amphibien sind die am stärksten bedrohte Wirbeltierklasse. Sie leiden unter Krankheiten, dem Verlust ihrer Lebensräume und den Folgen der Klimakrise. Die Roten Listen Deutschlands bewerten den Gefährdungsgrad von Arten und zeigen, dass jede zweite Amphibienart gefährdet ist. Bei den Reptilien sind es sogar neun von 13 Arten. Dabei geht es nicht um die Arten allein. Frösche etwa sind wichtige Bioindikatoren: Sie reagieren empfindlich auf Veränderungen ihrer Umwelt. Weiß man, wie es ihnen geht, erfährt man auch einiges über die Gesundheit ihres Lebensraums.
Zum Zeitpunkt des Interviews steht in Arifins Büro in Hamburg ein Pappkarton im Regal. Darin sind viele kleine und größere Schraubgläser mit eingelegten Fröschen und Kaulquappen: ihre Proben. An jede ist ein Bändchen mit einer Kennung gebunden. Im Keller des Gebäudes, in der Herpetologischen Sammlung, gibt es circa 90.000 in Alkohol oder Formaldehyd eingelegte Sammlungsstücke. Regale voller Gläser, manche bis zum Rand mit Tieren gefüllt. Arifin geht durch die Gänge, durch ihre Welt. Sie rezitiert ein indonesisches Sprichwort: Wenn du es nicht kennst, kannst du es nicht lieben.