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Die landesweiten Hochschulproteste in den USA sind vorerst abgeflaut. Sie hatten sich gegen das Vorgehen des israelischen Militärs in Gaza, gegen die israelische Regierung und, weiter gefasst, auch gegen die Existenzberechtigung des Staates Israel gerichtet. Unter der Losung »From the river to the sea, Palestine will be free« hatten die Studierenden, darunter auch manche jüdischer Herkunft, zu einer radikalen politischen Neuordnung des Nahen Ostens aufgerufen – und die amerikanische und internationale Öffentlichkeit seit Oktober 2023 in Atem gehalten.

In Israel stießen die Proteste und teilweise antisemitischen Parolen in allen politischen Lagern auf Entsetzen. Am 12. Oktober 2023, fünf Tage nach dem Überfall der Hamas auf Israel, veröffentlichten 60 israelische Linksintellektuelle einen Appell in der israelischen Tageszeitung »Haaretz«. Sie forderten die Unterstützung und Solidarität der globalen Linken in Form eines unmissverständlichen Aufrufs gegen willkürliche Gewalt. Der Aufruf – auch in englischer Sprache verfasst – zeigt eine tiefe Enttäuschung über die unzureichende Reaktion amerikanischer und europäischer Linksliberaler und Sozialisten angesichts des von der Hamas an israelischen Zivilisten verübten Massakers.

Zu unserer Bestürzung heißt es in dem Appell, haben einige Personen innerhalb der globalen Linken, die bisher unsere politischen Partner waren, mit Gleichgültigkeit auf diese schrecklichen Ereignisse reagiert und die Aktionen der Hamas manchmal sogar gerechtfertigt.

Einige weigern sich, fährt der Aufruf fort, die Gewalt zu verurteilen, und behaupten, Außenstehende hätten kein Recht, über die Taten der Unterdrückten zu urteilen. Andere haben das Leid und Trauma heruntergespielt und behauptet, die israelische Gesellschaft habe diese Tragödie selbst verursacht. Wieder andere haben sich durch historische Vergleiche und Rationalisierungen vor dem moralischen Schock geschützt. Und es gibt sogar diejenigen – nicht wenige –, für die der dunkelste Tag in der Geschichte unserer Gesellschaft ein Grund zum Feiern war.

Als ein Student sagte, er komme aus Israel, nannte ihn der Dozent einen Kolonisator.

Am gleichen Tag schrieben der Präsident und der Rektor der Hebräischen Universität Jerusalem, Asher Cohen und Tamir Sheafer, ihren Kollegen in Harvard und Stanford. In ihrem Brief an Harvard-Präsidentin Claudine Gay wiesen sie auf eine Erklärung von 34 studentischen Organisationen an ihrer Universität hin, die den Überfall der Hamas als Akt des Widerstandes gegen ein kolonialistisches Regime rechtfertigen (die Amnesty-International-Gruppe der Universität ließ kurz danach ihren Namen von der Liste streichen). Weiter nannten die israelischen Hochschulleiter die »Stanford Students for Justice in Palestine«, die das Massaker der Hamas als Teil des andauernden, jahrzehntelangen Kampfes gegen die israelische Unterdrückung gefeiert und gepriesen hatten. Die Palästinenser hätten das legitime Recht, sich der Besatzung, der Apartheid und systemischen Maßnahmen zu widersetzen. Zivile Opfer seien bedauerlich. Doch seien auch sie ja Teil des Kolonialregimes.

Auch in den amerikanischen Medien sorgten die Entwicklungen an den Universitäten für Schlagzeilen. Unter der Überschrift »The War Comes to Stanford« berichtete etwa die New York Times am 13. Oktober vom Fall eines Stanford-Dozenten. Vor der Klasse hatte er behauptet, im Vergleich mit den Opfern des Kolonialismus sei die Zahl der sechs Millionen Opfer des Holocaust als niedrig zu bewerten. Anschließend habe er alle Schüler aufgefordert, anzugeben, woher sie kamen, um ihnen sodann mitzuteilen, ob sie Kolonialisierte oder Kolonisatoren seien. Als ein Student sagte, er komme aus Israel, nannte er ihn einen Kolonisator. 

Die Leitung der Universität reagierte halbherzig. Sie versicherte zwar, antisemitische Losungen und Hakenkreuze seien vom Campus entfernt worden, doch für alle Studenten gelte die Meinungsfreiheit. Dies geschah an einer Universität, deren Studenten sich zu Recht für die anfangs ausgesprochen progressive Bewegung »Black Lives Matter« eingesetzt hatten, deren Gruppen an verschiedenen Hochschulen jetzt jedoch den Überfall der Hamas am 7. Oktober als einen Akt der Befreiung gegen das israelische Kolonialregime priesen. Harvard und Stanford sind inzwischen zu zwei von immer mehr amerikanischen Universitäten geworden, an denen sich jüdische Studenten heute teilweise nicht mehr sicher fühlen. Zu einem Epizentrum der Proteste wurde die New Yorker Columbia University.

In Reaktion auf die Geschehnisse wurden die Präsidentinnen dreier renommierter amerikanischer Hochschulen, Claudine Gay (Harvard), Liz Magill (University of Pennsylvania) und Sally Kornbluth (Massachusetts Institute of Technology), am 5. Dezember 2023 zu einer Anhörung vor dem Bildungsausschuss des US-Kongresses vorgeladen. Sie sollten zu den Protesten an ihren Universitäten, zu den nicht überhörbaren antisemitischen Tönen Stellung nehmen. Auf die scharfen Fragen der Abgeordneten Elise Stefanik von der Republikanischen Partei antworteten sie vage und ausweichend. Die antisemitischen Proteste an ihren Universitäten seien abhängig vom Kontext zu bewerten und nicht ohne Weiteres zu verurteilen. Hätten sie ähnlich auf rassistische Demonstrationen gegen Afroamerikaner reagiert? Liz Magill und auch Claudine Gay traten wenig später von ihrem Amt zurück. Letztere allerdings nur, weil sie des Plagiats in ihrer Dissertation überführt worden war.

Nachvollziehbar ist der Hinweis auf das Recht der freien Meinungsäußerung, die den studentischen Protest gegen Israels Vorgehen in Gaza einschließlich der Kritik am Zionismus und an der Besatzungspolitik Israels in der Westbank deckt. Selbst die offene Ablehnung der staatlichen Existenz Israels, denn nichts Anderes bedeutet die Losung »From the river to the sea, Palestine will be free«, ist in den USA durch die bürgerliche wie die akademische Freiheit gedeckt. Allerdings gingen die studentischen Proteste oft noch darüber hinaus: Die Untaten der Hamas wurden verherrlicht, es wurde zu Gewaltaktionen gegen »Zionisten« aufgerufen, zu denen man auch amerikanische Juden, nicht nur Israelis, zählte.

Eines der Zentren der Proteste: Die Columbia University in New York. Foto TOBIAS PFEIFER/UNSPLASH

Was sind die Gründe für die Eskalation des Hasses? Der wohl wichtigste Grund ist die nie in Gänze durchdachte Berufung auf eine zudem stark vereinfachte Imperialismus-Theorie: Wirtschaftliche Abhängigkeiten, politische Herrschafts- und kulturelle Hegemonial-Verhältnisse werden in einem Schwarz-Weiß-Schema erklärt. Doch machen diese verkürzten Begriffe des Antiimperialismus und Antikolonialismus differenzierte Urteile über die Verhältnisse in Israel wie auch in den USA fast unmöglich und können unter Verwendung der Figur »des kapitalistischen und privilegierten Juden« bis zum Antisemitismus führen – nämlich dann, wenn der imperialistische Westen und besonders die USA mit ethnischen oder kulturell-identitären Begriffen beschrieben werden. Eine solche Haltung hatte bereits zum Bruch zwischen jenen Juden und Schwarzen geführt, die selbst oder deren Eltern in der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre zusammenstanden.

Ein Beispiel ist die kanadisch-amerikanische Schriftstellerin Naomi Klein, in der radikalen Linken viel gelesen, die den Holocaust als Element des europäischen Kolonialismus in eine Linie der Kontinuität mit den Kreuzzügen, dem Ringen um Afrika und dem transatlantischen Handel mit versklavten Menschen stellt. Sie beantwortet dieses durchaus diskutable Problem jedoch falsch, wenn sie fordert, den Holocaust als Teil der kolonialen Tradition – und als nichts sonst – zu begreifen, was die Einzigartigkeit des Judenmordes (und übrigens auch den Zusammenhang von faschistischem Judenhass und Antisozialismus) in Frage stellt.

Dies steht im Zusammenhang mit einem nie aufgearbeiteten Schuldkomplex mancher amerikanischer Intellektueller, unter ihnen auch Juden: Angesichts des einstigen und noch immer existierenden Rassismus gegen Afroamerikaner verzichten sie auf jede Kritik an »kolonisierten« Akteuren, zu denen die Palästinenser gezählt werden – seien deren Positionen politisch noch so schädlich und moralisch noch so verwerflich. All dies wurde auch durch die Berufungspolitik vieler Universitäten möglich. Besonders in den Bereichen Black Studies und Latin American Studies führte sie dazu, dass bei der Auswahl des Lehrkörpers Identität oft vor Leistung ging.

Hier ist ein Blick in die Vorgeschichte der studentischen Demonstrationen hilfreich. Die mit 94.000 Mitgliedern stärkste linke Organisation, die Democratic Socialists of America (DSA), rief auf einer national convention bereits 2017 zum Boykott aller Israelis und ihrer Institutionen auf. Dieselbe Idee liegt auch der Bewegung Boycott-Divestment-Sanctions (BDS) zugrunde, die sich einst als zivilgesellschaftliche Strömung verstehen wollte und nun den Hamas-Terror beschönigt und sogar unterstützt. Vom Boykott betroffen sein sollten auch akademische und politische Linke, die in Verbindung zum israelischen Staat stünden.

Die Forderung nach dem Abbruch der akademischen Kontakte gilt allein dem jüdischen Staat und seinen Universitäten. Unter den Tisch gekehrt wird dabei, dass der Staat Katar, ein autoritäres Regime, in dem es immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen kommt, direkt und durch Investmentfonds zum wichtigsten ausländischen Förderer amerikanischer Universitäten geworden ist. Das gilt insbesondere für die Columbia University.

Jamaal Bowman, linker Kongressabgeordneter für die Demokratische Partei, hat die DSA wegen ihrer Irrwege kürzlich verlassen – nach einer Kundgebung auf dem Times Square, bei der das Ende des jüdischen Staates gefordert wurde. Er und vorerst nur ein Teil der amerikanischen Sozialisten verstehen, dass unter den aktuellen Verhältnissen eine doppelte Solidarität nötig ist: mit dem überfallenen Israel und gerade auch mit jenen Palästinensern, die unter dem Terror der Hamas und anderer islamistischer Gruppen leiden. Inzwischen haben, und dies kann kein Grund zur Befriedigung sein, innerhalb der kurzen Zeit seit dem 7. Oktober 2023 rund 40 Prozent der Mitglieder der DSA den Rücken gekehrt.

Es bedarf eines Bruches mit jeder Art von Antisemitismus. Doch davon ist die Mehrzahl der studentischen Protestierenden derzeit weit entfernt.

Es bedarf, und nichts anderes ist die Botschaft des eingangs zitierten Briefes israelischer Linksintellektueller, eines Bruches mit jeder Art von Antisemitismus und selbstverständlich auch mit jeder Art eines antiarabischen Chauvinismus, um einer Linken, die sich ursprünglich auf einen Universalismus als leitendes Prinzip berief, wieder Glaubwürdigkeit zu verleihen. Doch davon ist die Mehrzahl der studentischen Protestierenden derzeit weit entfernt.

Dabei gibt es ermutigende Gegenbeispiele. Verschiedene Medien zitierten am 17. Oktober 2023 eine Erklärung von 19 Universitäten, darunter ebenso die einst afroamerikanische Dillard University in New Orleans wie die jüdische Yeshiva University in New York. Wir sind entsetzt und empört über die Brutalität und Unmenschlichkeit der Hamas, heißt es darin. Die Ermordung unschuldiger Zivilisten, darunter Babys und Kinder, die Vergewaltigung von Frauen und die Geiselnahme älterer Menschen sind keine Taten politischer Meinungsverschiedenheit, sondern Taten des Hasses und des Terrorismus. Die Grundlage aller Universitäten sei das Streben nach Wahrheit, und gerade in Zeiten wie diesen ist moralische Klarheit erforderlich.

Natürlich bieten die törichten Slogans linker und pseudolinker Demonstranten auf dem Campus auch der gut organisierten Rechten ein Einfallstor. Errungenschaften der Bürgerbewegung werden angegriffen und zurückgedrängt: der erleichterte Zugang ethnischer, oft benachteiligter Minderheiten zur Universität sowie der Schutz von Frauen und Homosexuellen vor Übergriffen und Diskriminierung. Umso wichtiger sind Stimmen wie die des afroamerikanischen Linguisten John McWhorter, der liberale und linke Denktraditionen im Sinne von W.E.B. Dubois und Frantz Fanon gegen verengte Thesen verteidigt, die ein schwarzes Denken von jedem Klassenbegriff loslösen wollen; eine Haltung, die sich in der Be- und Verurteilung Israels als einer weißen Kolonialmacht (und als nichts sonst) zeigt.

Es dürfte noch ein langer Weg zurückzulegen sein, bis der irregeleitete Teil der amerikanischen – und internationalen – Linken begreift, dass eine solche, nur scheinbar progressive Haltung die eigenen Kräfte spaltet, lähmt und die Linke letztlich um jeden Kredit bringt.

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