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TILL TÖPFER

ist Sektionsleiter Ornithologie am Museum Koenig in Bonn, einem Forschungsmuseum des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels. Die begleitenden Fotos stammen aus dem Buch »Nests« der amerikanischen Fotografin Sharon Beals.

»Viele Menschen verbinden mit einem Nest die Vorstellung einer zerbrechlichen, aber irgendwie gemütlichen Behausung für Vögel. Dabei wohnen die wenigsten Vogelarten langfristig in ihren Nestern, und manche bauen überhaupt keine Nester. Vogelnester dienen in erster Linie dem Schutz der Eier während der Bebrütung und der Jungvögel in ihrer ersten Lebensphase. Die wichtigsten Merkmale eines Nestes sind sein Standort (der Nistplatz), die Konstruktionsweise und die verwendeten Materialien. Jede dieser Eigenschaften kann selbst bei ein- und derselben Vogelart stark variieren. Je nach Größe und Lebensweise der Vögel, den jeweiligen Umweltbedingungen sowie der Verfügbarkeit von Nistplätzen und Baumaterialen entsteht so eine Vielzahl an Erscheinungsformen und Strukturen von sehr unterschiedlicher Dauerhaftigkeit.

Nest der Bienenelfe (Mellisuga helenae), dem kleinsten Vogel der Welt.
Nest der Mangrovenamazilie (Amazilia boucardi), einer stark gefährdeten Art aus Costa Rica.

Upcycling in der Vogelwelt: Amsel (Turdus merula)

Das Amselnest ist der Klassiker unter den Vogelnestern: In den Zweigen von Büschen und kleinen Bäumen befestigt, stabilisiert eine äußere Schicht aus verwobenen Gräsern das napfförmige Nest auf seiner Unterlage aus dünnen Zweigen und Halmen. Zusätzlich erhöht der Einbau feuchter Erdklumpen die Haltbarkeit von Unterlage und Nestwänden, bevor die innere Auskleidung aus feinen Gräsern und Blättern angefertigt wird. Dieser geschichtete Materialmix hält Eier und Jungvögel warm. Amseln sind sogenannte Kulturfolger: Sie haben sich an ein Leben in menschlicher Umgebung angepasst und sind auch in extrem urbanen Lebensräumen wie Innenstädten zu finden. Dort ergänzen sie das spärliche Pflanzenmaterial gern durch den Einbau von Plastikfolien, Papier oder Textilresten, was ihren Nestern mitunter ein »urbanes« Erscheinungsbild verleiht. Das ausschließlich von den Weibchen erbaute Amselnest hält nur eine Saison, dafür finden darin gelegentlich auch mehrere Bruten nacheinander statt.

My home is my castle: Hammerkopf (Scopus umbretta)

Den Hammerkopf macht nicht nur sein charakteristisches Aussehen außergewöhnlich, sondern auch sein haufenartiges Nest mit oft mehr als anderthalb Metern Durchmesser. Dafür befestigt das Hammerkopf-Paar zunächst eine stabile Plattform aus ineinander verkeilten Ästen, Zweigen und Schlamm in der Astgabel eines Baumes. Über der Plattform errichten die Vögel eine komplexe geschlossene Struktur aus miteinander verwobenen Zweigen und starken Gräsern. Sie beinhaltet die eigentliche Nistkammer, die von unten durch einen Tunnel zugänglich ist. Hammerköpfe sind eigentlich ununterbrochen mit dem Nestbau beschäftigt. Fortwährend wird ausgebessert und vergrößert. Und obwohl das Errichten eines Nestes bis zu drei Monate dauern kann, bauen viele Hammerköpfe jedes Jahr gleich mehrere Nester, selbst wenn sie darin gar nicht brüten.  Zur Freude einer Vielzahl anderer Vogelarten, die entweder auf oder in diesen natürlichen Großstrukturen nisten.

Nest des Baltimoretrupials (Icterus balbula), dem Staatsvogel des US-Bundesstaats Maryland.

Brüten und brüten lassen: Thermometerhuhn (Leipoa ocellata)

Im australischen Busch, wo das Thermometerhuhn lebt, sind die Tage heiß und die Nächte kalt. Doch nur bei genau 34 Grad Celsius können sich die Eier perfekt entwickeln. Besondere Umstände erfordern besondere Lösungen: In diesem Fall einen riesigen, mehrschichtigen Bruthügel, denn diese eigenartigen Vögel brüten noch nicht einmal selbst. Das Paar gräbt eine etwa einen Meter tiefe Mulde mit drei Metern Durchmesser, die sie zunächst mit Pflanzenmaterial auffüllen und dann mit einer Sand- und Erdschicht abdecken, sodass ein Hügel von etwa anderthalb Metern Höhe und vier Metern Durchmesser entsteht. Zwischen der Pflanzen- und der Sandschicht befindet sich die eigentliche Brutkammer, in die das Weibchen die Eier legt und wieder bedeckt. Nach und nach verrottet das Pflanzenmaterial und produziert Wärme. Das Männchen bewacht nun das Nest: Immer wieder steckt es seinen Schnabel in den Bruthügel und prüft damit wie mit einem Thermometer die Temperatur. Es scharrt kühlende Luftlöcher oder deckt den Hügel wärmer zu. Dieser Prozess kann mehrere Monate in Anspruch nehmen, was Thermometerhühner zu den Vogelarten mit der längsten Bebrütungszeit macht. Wenn ihre Jungen schlüpfen, sind sie bereits voll befiedert. Von allen Vogelarten sind sie am Weitesten entwickelt – und das müssen sie auch sein, denn ihre Eltern kümmern sich nur um den Hügel – und sobald die Jungvögel diesen verlassen, sind sie vollkommen auf sich selbst angewiesen.

Auf schwimmenden Inseln: Ohrentaucher (Podiceps auritus)

Wasser bedeutet Schutz, aber auch Gefahr: Viele Wasservögel leben mit dem Risiko, dass ihre Nester durch stark schwankende Wasserstände beschädigt oder überflutet werden. Die Lösung: schwimmende Nester. Die Ohrentaucher Eurasiens und Nordamerikas erbauen solche Nistboote innerhalb weniger Stunden.  Zunächst fügen sie einen schwimmfähigen Unterbau aus Schilf- oder Binsenhalmen zusammen, auf dem sie dann die Blätter verschiedener Wasserpflanzen aufhäufen. Selbst bei Hochwasser sind Eier und Jungvögel so immer obenauf. Damit die Nester nicht davontreiben, integrieren Ohrentaucher außerdem umgeknickte Schilfhalme in den Unterbau. Diese natürlichen Anker halten die Konstruktion an Ort und Stelle. Simpel, aber effektiv.

Nest des Bullock-Trupials (Icterus bullockii), einer Vogelart, bei der beide Geschlechter singen: Die Männchen lieblicher, die Weibchen dafür umso mehr.

Gehüllt in Flechten und Seide: Kolibris (Trochilidae)

Kolibris gehören zu den kleinsten Vogelarten der Welt und bauen entsprechend filigrane Napfnester aus feinen Pflanzenmaterialien: Flechten, Rinden- und Blattstückchen, die sie direkt auf der Oberseite einzelner Zweige befestigen. Mit Spinnen- oder Raupenseide bindet das Weibchen das Nistmaterial zusammen und gewährleistet so, dass es zusammenhält und fest mit dem Zweig verbunden ist.  Aufgrund ihrer natürlichen Flexibilität ist die Seide das ideale Befestigungsmaterial. Sie wird auch für das Nestinnere benutzt, dessen Wände mit feinster Pflanzenwolle, Tierhaaren und weichen Samenhüllen weich und warm ausgekleidet werden. Obwohl Kolibris für ihre schillernden Farben bekannt sind, beweisen sich viele Arten beim Nestbau als Meister der Camouflage: Sie platzieren auf der Außenseite ihrer Nester dieselben Flechten, die auch rund um das Nest wachsen. So wirkt das winzige Nest fast wie ein Teil des Zweiges, auf dem es befestigt ist, und ist kaum als Vogelbau erkennbar.

Gebeutelt, aber sicher: Stärlinge (Icteridae)

Die Stärlinge sind eine amerikanische Vogelfamilie, von der viele Arten Gräser und Blattfasern sehr kunstvoll zu kugeligen oder beutelförmigen Nestern verweben. Die einzelnen Fasern werden wie bei Textilien wiederholt ineinander verschlungen und bilden so ein flexibles, aber wiederstandfähiges, flächiges Flechtwerk. Nicht selten befestigen Stärlinge ihre Nester hoch oben an den äußeren Ästen oder Zweigen von Baumkronen, wo sie wie natürliche Pendel frei schwingen. Manche dieser Beutelnester sind fast einen Meter lang und der Eingang befindet sich oft weit oberhalb der eigentlichen Nestkammer. Um an Eier und Jungvögel der Stärlinge zu gelangen, müssen Fressfeinde also eine längere Kletterpartie – oder sogar Hängepartie – wagen, durch einen gut bewachten, meterhoch aufgehängten und wild hin- und her schwingenden Schlauch.

Nest des Annakolibris (Calypte anna): Bei der Balz machen die Männchen Sturzflüge aus 30 Metern Höhe.
Nest des Dreifarbenstärlings (Agelaius tricolor), dessen Gesang wie ein Knurren klingt.

Die Masse macht's: Siedelweber (Philetairus socius)

Auch wenn viele Vogelarten in Kolonien brüten, ist ein Mindestabstand zwischen den einzelnen Nestern immer gegeben. Am wenigsten »Privatsphäre« haben wohl die Siedelweber der südwestafrikanischen Savannen mit ihren großen Gemeinschaftsnestern, die mehr als 100 Nistkammern beherbergen können. Siedelweber sind etwa sperlingsgroße Singvögel, die eigentlich nie allein anzutreffen sind. Stets beginnen mehrere Paare gleichzeitig mit dem Bau einer dachartig geneigten Plattform aus Zweigen und stabilen Gräsern, die an starken Bäumen oder Telegrafenmasten befestigt werden.  Von der Plattform aus bauen sie nach unten weiter, mit dichten Lagen aus Gräsern und senkrecht eingesteckten Grashalmen. Das fertige Gemeinschaftsnest erinnert an einen Heuschober, wird kontinuierlich erweitert und kann über viele Jahrzehnte genutzt werden. Jedes Paar hat in der bis zu sieben Meter großen Konstruktion eine eigene Nistkammer. Aber in diesem Gemeinschaftswerk zeigen sich Hierarchien: In den zentralen Nisthöhlen ist die Temperatur stabiler – dort nisten nur die ranghöchsten Paare. 

Leben im Backofen: Töpfervogel (Furnarius rufus)

Aufwand und Nutzen stehen im Brutgeschäft der Vögel mitunter in eigenartigem Verhältnis. Ein Paar der nur etwa 60 Gramm wiegenden südamerikanischen Töpfervögel investiert beispielsweise bis zu drei Monate in den Bau eines fußballgroßen, annähernd kugelförmigen Nestes aus Schlamm, das letztendlich fünf Kilogramm wiegen kann. Die zwischen drei und fünf Zentimeter dicken Nestwände bestehen aus einem Gemisch aus Pflanzenfasern und Lehm, das die Elternvögel in kleinen Klümpchen herantragen, aufschichten und formen. Das fertige Nest besteht nur zur Hälfte aus der eigentlichen, mit weichen Pflanzen und Federn ausgekleideten Nistkammer. Die andere Hälfte ist eine Art Eingangsbereich, der das Eindringen von Fressfeinden stark erschwert. Der sonnengetrocknete Lehm ist ausgesprochen hart und witterungsbeständig, deshalb können Töpfervögel ihr Nest mehrere Jahre lang nutzen. Und weil es aussieht wie ein kleiner, runder Lehmofen, heißen die Vögel im Spanischen »Hornero« (von »horno« für »Ofen«).

Nestbau à la Haute Couture: Rotstirn-Schneidervogel (Orthotomus sutorius)

Dieser unscheinbare südostasiatische Singvogel besitzt mit seinem geraden und schmalen Schnabel ein Werkzeug, das er auf namensgebende Weise zum Nestbau zu nutzen weiß. Der Trick des Schneidervogels besteht darin, sich in einem Strauch ein oder zwei breite Blätter zu suchen und deren Ränder fein zu punktieren. Durch diese Löchlein fädelt er stabile Pflanzenfasern und formt so einen Trichter oder eine Schale aus den Blättern. Sobald die Enden der Schnüre ausfasern, fixieren sie die Blätter in ihrer Position – so stabil, dass sie die weich gepolsterte Nestmulde samt Vögeln und Eiern tragen können. Der Schneidervögel rupft die Blätter zudem nicht ab, sondern vernäht sie lebendig mit den Oberseiten nach außen. So bleiben sie grün und tarnen die Nester im Strauch ausgesprochen gut.

Nest des Rotstirn-Schneidervogels (Orthotomus sutorius), der in ganz Südostasien verbreitet ist.

Dornig ist der Weg zum Bruterfolg: Akazienhäher (Zavattariornis stresemanni)

Der nur in den heißen Savannen Äthiopiens vorkommende Akazienhäher baut ein beeindruckend gesichertes Nest in den Ästen mittelgroßer Bäume. Es ist annähernd kugelförmig, etwa ein Meter hoch und besteht aus ineinander verschränkten, dornbewehrten Zweigen von Akazien und anderen Dornsträuchern. Die Häher verbinden die Zweige so dicht miteinander und kleiden sie zusätzlich innen mit Erde oder Dung und Gräsern aus, sodass man nicht ins Nestinnere sehen kann. Überdacht wird das Ganze von einer Lage aus Akazienzweigen. Diesen überaus abweisenden Stachelverhau errichten häufig mehrere Akazienhäher gemeinsam. Die sozialen Vögel unterstützen sich auch bei der Versorgung der Jungvögel. Die aufwändige Nestkonstruktion hat aber nicht nur den offensichtlichen Zweck, den Zugang von Nesträubern massiv zu erschweren, die Kombination von Zweigen und Erde hält auch direkte Sonneneinstrahlung und damit übermäßige Hitze von der Nistkammer fern.

Mit Geduld und Spucke: Weißnestsalangane (Aerodramus fuciphagus)

In der asiatischen Küche gilt Schwalbennestersuppe als Delikatesse. Anders als der Name vermuten lässt, besteht sie allerdings nicht aus Schwalbennestern, sondern aus Nestern von Salanganen. Sie sehen Schwalben zwar ähnlich, sind aber südostasiatische Verwandte unserer Mauersegler. Sie brüten in Kolonien in düsteren Höhlen, wo sie sich mit Hilfe von hohen Klicklauten orientieren. Diese Fähigkeit der Echoortung ist unter Vögeln sehr selten, aber noch lange nicht die einzige Besonderheit der Salanganen. Ihre Nester bestehen nämlich ausschließlich aus getrocknetem Speichel, den sie streifenweise an die senkrechten Höhlenwände kleben. Nach einer Weile dickt er ein und härtet aus, sodass ein etwa handtellergroßes, weißliches, halbschalenförmiges Gebilde entsteht, in dem der brütende Elternvogel gerade Platz findet. Die Konstruktion sieht unspektakulär aus, besitzt aber aufgrund ihrer Dimensionierung und der mechanischen Eigenschaften der verfestigten Speichelproteine eine hohe strukturelle Festigkeit. Unter den Vogelnestern ist sie damit eine ganz eigene und einzigartige Ingenieursleistung.«

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