LEIBNIZ Herr Krautwurst, warum stinkt Müll?
DIETMAR KRAUTWURST Im Allgemeinen sind im Müll mikrobielle Abbauprodukte organischer Substanzen in hohen oder sehr hohen Konzentrationen vorhanden. Die stinken. Aber nicht jeder Müll riecht gleich unangenehm. In Biomüll, Hausmüll, Plastikmüll oder Papiermüll können ganz unterschiedliche flüchtige organische Substanzen entstehen und dann unterschiedlich abstoßende Gerüche in unserer Nase auslösen.
»Flüchtig« heißt, dass diese Substanzen als Gas austreten?
Ja, flüchtige organische Verbindungen sind gas- oder dampfförmige Stoffe in der Luft.
Und warum finden wir die im Fall des Mülls meist eklig?
Ich würde zurückfragen: Was riecht eklig und gibt es überhaupt etwas, was man gemeinhin als eklig bezeichnen kann? Zunächst mal ist es wichtig, diese geruchsaktiven Substanzen im Müll zu identifizieren. Erst wenn man weiß, was da riecht, kann man analysieren, was die einzelnen Komponenten tatsächlich bei Menschen auslösen. Kollegen in Erlangen haben in einer Arbeitsgruppe über 60 verschiedene geruchsaktive Substanzen in den unterschiedlichsten Müllsorten identifiziert.
Die Wahrnehmung von Geruch passiert immer in einem Kontext.
DIETMAR KRAUTWURST
Was sind die schlimmsten?
Beispiele für unangenehme oder abstoßende Gerüche im Müll sind stickstoffhaltige Verbindungen. Ein bekannter Vertreter dieser Gruppe ist das Gas Trimethylamin, das ganz charakteristisch nach verdorbenem Fisch riecht. Oder schwefelhaltige Verbindungen wie Schwefelwasserstoff. Sie riechen stechend nach faulen Eiern. Oder, ganz schlimm für die meisten Menschen: Dimethyltrisulfid. Das ist eine Substanz, die den typischen Leichengeruch auslöst.
Mich schüttelt es jetzt schon.
Ja, aber gerade hier wird klar, dass die Wahrnehmung von Geruch immer in einem Kontext passiert. Dimethyltrisulfid kommt nämlich auch im Sauerkraut vor. Da nehmen es die meisten Menschen ganz anders wahr. Es ist wichtig zu verstehen, dass die allermeisten Substanzen nicht von allen Menschen als abstoßend und eklig wahrgenommen werden. Die Konzentration der Substanz ist wichtig, der Kontext, in dem dieser Geruch wahrgenommen wird, und die persönliche Erfahrung und Erinnerung. Diese Punkte entscheiden über eine eher positive, eine neutrale oder eine negative Bewertung eines Geruchs.
Aber wenn man Müll riecht, sagt niemand, das riecht klasse.
Hier spielt mit Sicherheit die Konzentration der Geruchsstoffe die größte Rolle. In ganz niedrigen Konzentrationen würden sie vielleicht andere Geruchsempfindungen auslösen. Beim Müll sind sie aber hochkonzentriert. Jeder, der schon mal Müll gerochen hat, wird den Geruch mit dem Abfallberg assoziieren und das abstoßend finden. Das ist vielleicht auch ein Schutzmechanismus. Man kann ja durchaus schlechte Erfahrungen im Zusammenhang mit mikrobiellen Kulturen oder Verdorbenem gemacht haben. Wenn man das als Erinnerung abgespeichert hat, wird man eine bestimmte Sorte von Gerüchen immer als abstoßend bewerten. Dann hält man sich eher fern, damit man sich nicht infiziert oder sich eine Lebensmittelvergiftung einfängt.
Gibt es eine Komponente, die dem Menschen eigen ist?
Es könnte sein, dass es Gerüche gibt, die in diese Richtung gehen. Die Komponenten, die ich hier erwähnen würde, sind die beiden Substanzen Cadaverin und Putreszin, also Substanzen, die auch in verwesendem Material auftreten. Da kommen sie typischerweise in hohen Konzentrationen vor. Wenn man das einmal erlebt hat, ist das natürlich eine unangenehme Erfahrung. Aber es gibt natürlich kulturell geprägte Gerüche, die ganz unterschiedlich bewertet werden. Wenn wir zum Beispiel als Europäer an die asiatische vergorene Fischsoße denken, kann es durchaus sein, dass Europäer das eher als unangenehm bewerten. Umgekehrt können viele Asiaten vielleicht mit vergorenem französischem Rohmilchkäse nicht so viel anfangen.

Was ist eigentlich Geruch?
Geruch ist ein chemischer Sinn und er beschreibt die Wahrnehmung flüchtiger Substanzen über ein hierfür spezialisiertes Organ. Dieses Organ ist die Nase, genauer gesagt, das Geruchsepithel oder die Nasenschleimhaut im hinteren Bereich der Nasenhöhle. Die Strukturen, die für die Wahrnehmung von Gerüchen zuständig sind, sind die Sinnes-Nervenzellen in der Riechschleimhaut. Die ragen mit ihren Dendriten, baumartig verzweigten Fortsätzen in den Nasenschleim hinein. Diese Fortsätze tragen Biomoleküle, die die erste Interaktionsstufe mit chemischen flüchtigen Substanzen darstellen. Das sind unsere Geruchsrezeptoren.
Wie werden die aktiviert?
Wir müssen Gerüche aktiv durch die Nase ventilieren. Die chemischen flüchtigen Substanzen müssen durch die dünne Schleimschicht auf unserer Riechleimhaut hindurchdiffundieren, dann erreichen sie sofort die Geruchsrezeptoren. Diese Zellen haben eine antennenförmige Struktur, mit denen sie sich zur Außenwelt hin orientieren. Genau hier trifft die Chemie aufdie Biologie.
Kann denn jede Zelle jeden Geruch erkennen oder gibt es Spezialisten?
Da gibt es tatsächlich Unterschiede. Jede Sinnesnervenzelle in der Nasenschleimhaut kann nur einen ganz bestimmten Typ von Rezeptor bauen, und diese Rezeptoren können dann nur von bestimmten Geruchsmolekülen aktiviert werden. Damit das Gehirn das alles mitbekommt, schicken dann die elektrisch aktivierten Zellen ihre Fortsätze ins Gehirn. Das Riechepithel liegt praktisch direkt gegenüber dem Gehirn und ist nur durch die Siebbeinplatte von ihm getrennt. Diese Platte ist perforiert, also durchlässig – wie ein Sieb eben. Durch die Löcher erreichen die Nervenfortsätze das Gehirn, und aktivieren dort bestimmte Zwischenstationen, Umschaltstationen, wenn man so will.
Wo im Gehirn wird denn mit den Gerüchen gearbeitet?
Die erste Umschaltstation im Gehirn ist der olfaktorische Bulbus, der Riechkolben. Von hier aus werden Geruchsinformationen direkt an bestimmte Strukturen im Gehirn geleitet, die für Emotionen und Gedächtnis verantwortlich sind, zum Beispiel an den Mandelkern, die Amygdala oder den Hippocampus. Hier werden die Geruchsinformationen mit Emotionen und Gedächtnisinhalten verknüpft. Dann werden die Informationen weiter zum primären olfaktorischen Cortex, der primären Riechrinde im Vorderhirn, geleitet. Von da aus geht es weiter zum orbitofrontalen Cortex, der direkt über der Augenhöhle liegt. Dort laufen unter anderem auch Geschmacksinformationen ein, sodass wir schlussendlich auch Geruchs- mit Geschmacksinformationen verknüpfen und dann auch bewerten können.
Riechen denn manche Menschen mehr als andere oder gibt es einfach nur empfindlichere Menschen mit mehr Zellen?
Die genetische Ausstattung ist für uns Menschen natürlich die gleiche. Wir tragen die genetische Information zum Bau von etwa 400 verschiedenen Geruchsrezeptortypen in uns. Aber die genetische Information kann von Individuum zu Individuum unterschiedlich ausgeprägt sein. Manche dieser Geruchsrezeptor-Gene sind durch Mutationen beeinträchtigt, bis dahin, dass ein bestimmter Geruchsrezeptor nicht mehr funktionell ist. Dann sprechen wir von einer spezifischen Geruchsblindheit oder Anosmie. Es kann aber auch sein, dass Sie gerade eine virale Infektion erlebt haben, wie zum Beispiel Covid-19 oder eine übliche Grippe. Diese Viren können die Geruchswahrnehmung beeinflussen, im Falle von COVID sogar dauerhaft. Auch Stäube können zur Schädigung des Riechepithels führen. Wenn zum Beispiel ein Feinmechaniker ständig Wasserölstäube oder Dämpfe in die Nase bekommt, kann es durchaus sein, dass er über die Jahre hinweg den Geruchssinn verliert.
Wenn wir Gerüchen ununterbrochen ausgesetzt sind, kann es uns so vorkommen, als würde man nichts mehr wahrnehmen.
Kommt der Geruchssinn wieder, wenn man der Situation nicht mehr ausgesetzt ist?
Das ist ganz unterschiedlich. Ich selbst habe Leute kennengelernt, da ist es nicht mehr wiedergekommen. Möglich ist es aber, denn das Geruchssystem ist ein dynamisches System. Die Geruchsneuronen können sich in bestimmten zeitlichen Abständen neu bilden. Es entstehen neue Sinnes-Nervenzellen, die wiederum ihre Fortsätze an die richtige Position im Gehirn senden. Dann ist eine Geruchswahrnehmung wieder möglich.
Gibt es Menschen, die nur für einzelne Gerüche blind sind? Also zum Beispiel jemand, der zwar gekochten Brokkoli riecht, aber keinen Pferdemist? Oder Verdorbenes, aber keinen Rosenduft?
Das ist durchaus möglich, aber noch viel zu wenig untersucht. Man sagt, dass es ungefähr für vier Prozent lebensmittelassoziierter Geruchssubstanzen spezifische Anosmien gibt. Ebenfalls für vier Prozent blumiger Gerüche. Die spezifischen Blindheiten für moschusartige Parfumdüfte oder sandelholzähnliche Düfte kommen häufiger vor. Die liegen bis zu Faktor zwei bis drei höher.
Wie kommt das?
Wir sind nicht sicher, die Untersuchungsdefizite sind noch zu groß. Es wurden noch nicht so viele Geruchssubstanzen auf spezifische Anosmien untersucht. Je mehr Substanzen man untersucht, desto eher wird man wahrscheinlich spezifische Anosmien finden. Das kann von einem Prozent bis vielleicht sogar 30 Prozent variieren.
Was ist der Unterschied zwischen nicht wahrnehmen können und sich so dran gewöhnt haben, dass man eine Substanz nicht mehr riecht?
Das Riechsystem hat die Eigenschaft, sich bei einer Dauerexponiertheit bestimmten Gerüchen gegenüber zu desensitivieren. Wenn wir Gerüchen ununterbrochen ausgesetzt sind, reagiert das Geruchssystem nur noch ganz schwach oder gar nicht mehr auf bestimmte Substanzen. Dann kann es einem so vorkommen, als würde man nichts mehr wahrnehmen. Das ist aber reversibel. Wenn wir einen Ort mit sauberer Luft aufsuchen, sind wir nach ein paar Minuten oder maximal vielleicht einer halben Stunde wieder aufnahmebereit für erneute Geruchsreize.
Ist das derselbe Gewöhnungseffekt, wenn man immer dasselbe Parfüm benutzt, und irgendwann gar nicht mehr riecht, ob und wie viel man aufgetragen hat?
Man adaptiert. Das ist ein sehr schneller Effekt.

Gibt es einen Duftstoff, den alle mögen?
Das Aroma von Vanillin, wird allgemein als sehr angenehm empfunden. Dies mag daran liegen, dass der Geruch von Vanillin mit einer Süßgeschmacksempfindung assoziiert wird, da wir lebenslang eine Vielzahl vanillinhaltiger Lebensmittel, Getränke, Parfums und Raumdüfte erfahren. Rezeptoren für Vanillin wurden in der Tat bereits von mehreren internationalen Arbeitsgruppen identifiziert. Ähnliches gilt auch für bestimmte fruchtige Geruchsnoten, zum Beispiel fruchtige Esterverbindungen.
Wenn man einen Müllgeruch übertönen will, nimmt man also Vanille?
Man versucht, zwei Wege zu gehen. Zum einen ist man auf der Suche nach spezifischen Blockern für Schlechtgerüche. Die Geruchstofffirma Firmenich und die Gates-Stiftung etwa haben gemeinsam versucht, Toilettendüfte zu blockieren. Diese Blocker, die ja selbst auch flüchtige Substanzen sind und in die Nase gelangen müssen, können dort allerdings selbst einen eventuell unangenehmen Geruch auslösen.
Und der andere Weg?
Mit der Erforschung sogenannter allosterischer Blocker kommt man der Sache vielleicht ein wichtiges Stück näher. Allosterische Blocker sind Substanzen, die nicht an derselben Stelle wie ein Geruchsstoff oder Agonist binden, sondern an einer anderen Stelle im Rezeptor. Idealerweise haben sie selbst keinen schlechten Eigengeruch. Damit versucht man, die Aktivität der Geruchsrezeptoren zu hemmen. Man könnte sagen, die Information über üble Gerüche kann vom Rezeptor nicht mehr weitergegeben werden. Der Müll würde dann zwar immer noch stinken, aber in Anwesenheit allosterischer Blocker in einer bestimmten räumlichen Gegebenheit als nicht mehr so unangenehm empfunden werden.
Wie lange dauert es noch, bis die Forschung so weit ist?
Ich glaube, jeder, der mit Geruchsrezeptoren forscht, ist dabei, irgendwelche Blocker oder allosterischen Modulatoren zu identifizieren. Ich vermute, es wird noch ein paar Jahre dauern, aber wir geben uns Mühe.
TONSPUR WISSEN
Das Gespräch mit dem Biologen Dietmar Krautwurst vom Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie können Sie in voller Länge in unserem Podcast »Tonspur Wissen« hören, den die Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam mit der Rheinischen Post produziert. Die Journalistin Ursula Weidenfeld widmet sich darin regelmäßig aktuellen Themen und Entwicklungen – und spricht darüber mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Leibniz-Gemeinschaft. Alle Folgen des Podcasts finden Sie hier.