leibniz

JAN C. BEHRENDS
ist Historiker und Projektleiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Zeitgeschichte Osteuropas, europäische Diktaturen und Gewaltforschung.

LEIBNIZ Herr Behrends, hätten die diversen Bundesregierungen vor 2022 den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine vorhersehen können?

JAN C. BEHRENDS Man hätte bereits nach der Machtübernahme Wladimir Putins genauer analysieren können, wie er den Staat umbaut: die Unterwerfung der Massenmedien, der Beginn der massiven anti-westlichen Propaganda, die Cyberattacken auf das Baltikum. Allerspätestens 2007, als sich Putin mit seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz ganz offen zu anti-westlicher Politik bekannte und den Revisionismus zum russischen Programm erklärte. Darauf folgten 2008 der Georgienkrieg, Anfang 2014 die russische Invasion im Donbas und die Annexion der Krim. Die deutsche Außenpolitik hat zwar mit den Minsk-Abkommen versucht, einen Waffenstillstand zu verhandeln, hatte aber wenig Erfolg, auch weil man Moskau viel zu weit entgegenkam. Das lag nach meiner Meinung an einer verfehlten Strategie.

Inwiefern war sie verfehlt?

Das eigentliche Problem liegt darin, dass die Bundesregierungen zu wenig auf die Entwicklung der inneren Ordnung in Russland geschaut haben. Man dachte zu lange, dass Russland wie andere postkommunistische Staaten auf dem Weg zur Demokratie oder wenigstens an Kooperation interessiert sei. Das hatte sich bereits die Regierung Kohl während der Regierungszeit Boris Jelzins eingeredet und dies wurde dann auch für das Russland unter Putin vorausgesetzt, insbesondere nach dessen berühmter Bundestagsrede 2001, die er teilweise auf Deutsch gehalten hat. Sämtliche Bundesregierungen der letzten Jahrzehnte haben geglaubt, dass wirtschaftliche Verflechtung zu Frieden und Stabilität in Europa führt. Das war offensichtlich ein Trugschluss.

Warum?

Nehmen wir das Beispiel von NordStream 2. Der Vertrag für das Projekt wurde 2015 unterzeichnet – ein Jahr nachdem Russland seinen Nachbarn Ukraine überfallen hat. Obwohl ganz klar war, dass es sich dabei auch um ein anti-ukrainisches Projekt handelt. Es ging ja darum, dass das Gas direkt aus Russland durch die Pipeline geleitet werden kann und nicht mehr den Transit über die Ukraine geht. Und wir haben dafür bezahlt. Davon abgesehen, dass wir mit unseren Gas-Rechnungen auch die russische Aufrüstung bezahlt haben.

Wir hatten zu keinem Zeitpunkt Einfluss auf den Kreml.

JAN C. BEHRENDS

Portrait des Historikers Jan C. Behrends
Foto ANDY KÜCHENMEISTER/ZZF

Warnungen vor einer Abhängigkeit von Russland gab es auch schon damals. Warum hat die Regierung unter Angela Merkel nicht darauf gehört?

Ich glaube, dass es bei Merkel auch der Einfluss der deutschen Wirtschaft war. Sie wollte das günstige russische Gas. Und nachdem Merkel Hals über Kopf den Atomausstieg verkündet hat, brauchte auch die deutsche Politik das russische Gas. Die deutsche Russlandpolitik war eine Mischung aus außenpolitischer Illusion und innenpolitischem Lobbydruck. Was fehlte waren Weitsicht und Strategie.

Drei Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs hat Olaf Scholz die Zeitenwende ausgerufen. Hat die deutsche Politik gegenüber Russland seit dem Februar 2022 ihren Kurs tatsächlich korrigiert?

Auf jeden Fall. Es gab ja auch gar keine realistische Alternative. Wir erlebten den ersten großen zwischenstaatlichen Krieg in Europa seit 1945. Die NATO und Deutschland sind konkret durch Moskau bedroht. Wir standen vor der Gefahr der vollständigen Eroberung der Ukraine durch Russland. Wir wurden abgeschnitten von russischer Energie. Es gab also einen Kurswechsel, ja. Die meisten Osteuropa-Experten denken jedoch, dass die Unterstützung für die Ukraine viel größer ausfallen müsste.

Warum hören Politikerinnen und Politiker so selten auf die Argumente der Wissenschaft?

In der Geschichtswissenschaft, aber auch in der Politikwissenschaft analysieren wir Zusammenhänge über viel längere Zeiträume. Zum Beispiel: Wie wird die Ordnung in Europa in zehn Jahren aussehen, wenn die Ukraine jetzt den Krieg verliert? In der Politik ist das strategische Denken viel kurzfristiger: Wie populär ist es, wenn ich die Zeitenwende durchziehe? Was bedeutet das für den Haushalt? Kann ich dann noch mein Sozialprogramm durchsetzen? Es werden die falschen Prioritäten gesetzt, es fehlt an Denken über den Tag hinaus. Das war bei Merkel so, das ist bei Scholz so – beide lassen es an Führung vermissen.

Bei den diesjährigen Landtagswahlen in Ostdeutschland hat das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) aus dem Stand beachtliche Wahlerfolge verzeichnet. Seine Kernforderung lautet „Frieden mit Russland“. Wieso verfängt dieses Versprechen?

Viele Deutsche haben Sehnsucht nach Frieden. Damit spielt das BSW. Und es nutzt die weitverbreitete Überschätzung der deutschen Position aus. Als ob Deutschland in der Ukraine über Krieg oder Frieden bestimmen könnte!  Wir haben zu keinem Zeitpunkt über so einen Einfluss im Kreml verfügt. Wir können nur mitbestimmen, ob es die Ukraine übermorgen oder nächstes Jahr noch gibt.

Foto eines Innenhofes mit brennenden Gebäuden und einer ukrainischen Flagge
Foto UNSPLASH/TAINE NOBLE

Wandel durch Annäherung funktionierte schon in der Sowjetzeit nicht.

Wie erklären Sie sich den großen Zuspruch zu russlandfreundlichen Positionen des BSW, aber auch der AfD?

Die Westbindung Deutschlands war die wichtigste politische Entscheidung der vergangenen 80 Jahre. In der alten Bundesrepublik war das Teil der Staatsräson. In Ostdeutschland dagegen ist die Westbindung schwach verwurzelt. Ein Stück weit zur ostdeutschen Identität gehören auch antiwestliche Ressentiments gegen die NATO und die USA. In Westdeutschland kann das BSW an pazifistische Traditionen der Friedensbewegung aus der Zeit des Kalten Krieges anknüpfen.

Viele Menschen hoffen auf „Wandel durch Annäherung“. Dieses Konzept steht nicht zuletzt in der Tradition der Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr, auf die die SPD sehr stolz ist. Sie sind selbst SPD-Mitglied. Halten Sie diese Tradition für zukunftsfähig?

Die historische Ostpolitik hatte natürlich große Verdienste, insbesondere die Anerkennung der Grenzen in Osteuropa, die Aussöhnung mit Polen, die innerdeutsche Entspannung. Aber die Formel „Wandel durch Annäherung“ ging schon in den 1970er und 1980er Jahren nicht auf: Die Repression in der DDR, der Sowjetunion und Polen ging unverändert weiter oder wurde teilweise sogar noch schlimmer. Die DDR entwickelte sich keineswegs in Richtung Demokratie. Ganz im Gegenteil. Und auch nicht die Sowjetunion.

Nimmt man in Russland das BSW als Akteure in der deutschen Politik wahr?

Auf jeden Fall. Neulich wurden vertrauliche Papiere aus der Akademie der Wissenschaften in Moskau geleakt, in denen explizit AfD und BSW als die positiven Kräfte in der deutschen Politik gelobt wurden. Aus meiner Sicht ist es eine Katastrophe für die deutsche Demokratie, dass wir in manchen Bundesländern nah dran sind, eine strukturelle Mehrheit Putin-freundlicher Parteien in den Landesparlamenten zu haben.

Ohne AfD und BSW gibt es in Sachsen keine parlamentarische Mehrheit mehr. Zuletzt hatten sich der sächsische CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer, sein Thüringer Parteikollege Mario Voigt und Brandenburgs SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke für mehr Diplomatie im Ukrainekrieg ausgesprochen: Ein Signal in Richtung des BSW, das für eine Koalition einen Stopp der deutschen Ukraine-Unterstützung fordert. Welche Konsequenzen könnte das haben?

Politisch erwarte ich keine Konsequenzen, weil die Bundesländer nicht für die Außenpolitik zuständig sind. Ich glaube auch nicht, dass es dem BSW primär darum geht zu regieren. Aber dass demokratische Parteien überhaupt Koalitionsverhandlungen mit Frau Wagenknecht führen, die die Westbindung Deutschlands und damit letztendlich die Staatsräson der Bundesrepublik komplett ablehnt – das kann ich nicht verstehen.

Vielleicht auch interessant?