Müll – das sind Dinge, die übrig bleiben, uns überflüssig erscheinen. Was der eine eilig loswerden will, kann für die nächste jedoch von unschätzbarem Wert sein. Und was eine vergangene Gesellschaft noch achtlos entsorgte, wird einer späteren mitunter zum wertvollen Rohstoff. Hier zeigt sich: Müll ist vor allem eine menschliche Zuschreibung, die sich jederzeit in ihr Gegenteil verkehren kann. Je nachdem wohin das kulturelle Pendel ausschlägt, sind die Folgen gravierend.
Wir verklappen ihn in Gruben, werfen ihn ins Meer, verwerten ihn thermisch – zünden ihn also an in der Hoffnung, dass er sich für immer verflüchtigt. Als Müll behandeln wir all die Dinge, die uns wertlos erscheinen. Mit den Worten des Wirtschaftswissenschaftlers Karsten Neuhoff vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung: Müll sind Produkte mit einem negativen Preis.
Damit uns diese Dinge aus den Augen kommen, würden wir also sogar Geld bezahlen. Exkommuniziert werden dabei kaputte Möbel, abgetragene Kleidung und giftige Chemikalien ebenso wie vollfunktionale Stereoanlagen, Omas edles Porzellan, Handys voller seltener Erden und historische Dokumente, deren Lektüre so mancher Forscherin die Freudentränen in die Augen treiben dürfte. Zunehmend türmen sich auf unserem Planeten auch Berge alten Plastiks auf, mit denen große Umweltrisiken verbunden sind.
Müll entsteht erst in unserem Kopf, ist eine Zuschreibung.
JENS SCHNEEWEISS
Was für Sie als Lesende wertlos ist, kann für mich persönlich unersetzlich sein. Was Ihre Nachbarin auf die Straße schafft, stellt sich hernach ein Passant ins Wohnzimmer. Und was Unternehmen A als giftigen Reststoff verklappt, dient der Produktionshalle von Firma B als Ausgangsstoff. Was Müll anbelangt denken wir in Kategorien, die für uns selbstverständlich sind
, kommentiert Jens Schneeweiß vom Leibniz-Zentrum für Archäologie. Das Urteil, das wir über einen Gegenstand fällen, gilt aber nicht für alle Menschen, Gesellschaftsformen und historische Gemeinschaften gleichermaßen: Müll entsteht eigentlich erst in unserem Kopf, ist eine Zuschreibung.
Ein Objekt zweifelsfrei und für alle Zeiten als Müll zu deklarieren, ist entsprechend kaum möglich. Behalten oder wegwerfen? Immer wird diese Entscheidung von der Situation, den persönlichen Wertvorstellungen, den herrschenden gesellschaftlichen Normen, dem historischen Zeitpunkt beeinflusst. An der Tagesordnung sind dabei auch allerlei Grenzfälle. Vorhang auf für: die Geschenkekiste im Hausflur. Die Sachen, die wir da hineintun, sind nicht mehr in unserer Wohnung, aber auch noch nicht auf der Müllkippe
, sagt Jens Schneeweiß. Sie befinden sich in einer Zwischenwelt, auf einer Art Vorstufe zum Müll.
Für viele Dinge gilt eben: Weggelegt ist nicht gleich weggeschmissen. Auch wenn ich einem Freund eine Tafel Schokolade vor die Tür lege, oder einen Blumenstrauß auf das Grab meines Vaters, dann geht es mir in der Regel nicht darum, ein lästiges Objekt loszuwerden. Und dennoch werden zumindest die Blumen innerhalb weniger Tage zu Müll, landen auf dem Komposthaufen. Den Gegenständen selbst wohnt dabei kein bestimmter Status inne, jedes Objekt kann, so Schneeweiß, im Laufe seiner Biografie ganz verschiedene Wertzustände durchlaufen
.
Als Beispiel führt er eine Ausstellung zur Archäologie Sachsens an, die die älteste Scherbe Sachsens in Szene setzte. Keramikscherben sind in der Archäologie sehr, sehr häufig und gleichen einander oft wie ein Ei dem anderen.
Der materielle Wert der Scherben ist somit zumeist überschaubar. Die Ausstellung wies dieser einzelnen Scherbe jedoch einen erhöhten Wert zu: Ihr wurde ein ganzer Raum gewidmet, sie lag in der Mitte auf einem Sockel, wurde angestrahlt. Diese Kontextualisierung führte dazu, dass die Leute plötzlich staunend davorstanden.


Müll oder nicht Müll, wertlos oder wertvoll – das ist hier also die Frage. So auch mit Blick auf die ältesten Deponien der Menschheitsgeschichte. Sie sind in der Steinzeit entstanden, bestehen aus Muscheln und Speiseresten. Für Archäologen wie Jens Schneeweiß sind sie überaus aufschlussreich. Diese Haufen können mehrere Meter hoch sein und wurden über Jahrhunderte genutzt
, sagt der Forscher. Es gibt Belege, dass dort auch Rituale stattgefunden haben: Zum Teil wurden Menschen darin bestattet.
Grab und Müllkippe in einem, das geht nach heutigen Vorstellungen eher schlecht als recht zusammen, illustriert jedoch den chronisch ambivalenten Status von Müll. Etwas klarer liegt der Fall da wohl bei steinzeitlichen Bergwerken, in denen Feuerstein abgebaut wurde. Dabei entstanden riesige Abraumhalden, die die Landschaft ganz schön verkorkst haben – und das in einem Zeitalter, in dem noch nicht einmal Bronze oder Eisen nutzbar gemacht werden konnten.
Die menschliche Tendenz, massiv in Ökosysteme einzugreifen und dadurch die Umwelt mit Abfällen zu belasten, zeigt sich also schon früh. Ebenso wie die Fähigkeit zum Perspektivwechsel. Alter Müll aus dem Erzbergbau wurde der Menschheit so etwa nach Jahrhunderten wieder zum Wertstoff. Möglich machten das verbesserte Technologien, mit deren Hilfe sich wertvolles Metall aus prähistorischen Schlacken herauslösen ließ. Hier wie andernorts haben Menschen so über die Jahrhunderte alle möglichen Objekte im Wechsel weggeworfen, verbuddelt oder ausgegraben, verbrannt, benutzt oder auf dem Hausaltar ausgestellt.
Immerhin: Mit Blick auf die Menge der weggeworfenen und rituell abgelegten Objekte lässt sich menschheitsgeschichtlich eine Tendenz ausmachen. Wer viel hatte, entsorgte oft auch viel und opferte den Göttern der Stunde besonders viele wertvolle Gegenstände wie Kriegswaffen, Gold und Silber. Die geopferten Dinge wurden dabei oft mutwillig zerstört, also rituell getötet
, sagt Jens Schneeweiß. Gewissermaßen waren sie eine Wertanlage, um die Götter für die Zukunft milde zu stimmen.
Die absolute Menge an abgelegten und weggeworfenen Objekten hielt sich lange Zeit dennoch in Grenzen, denn leisten konnten sich so ein Verhalten nur die wenigsten.
Abfall oder doch Opfergabe? Es ist der soziale Kontext, der einen Gegenstand zu Müll macht. Mit Blick auf die Hinterlassenschaften unserer Vorfahren macht dieser Umstand Forschenden mitunter das Leben schwer. Wie genau Menschen in der Vergangenheit zu abgelegten Gegenständen gestanden haben, warum sie sie deponierten, lässt sich so vielleicht erahnen, aber kaum beweisen.
Gräbt der Archäologe Jens Schneeweiß etwa eine jahrhundertealte Goldmünze aus, kann sie aus den unterschiedlichsten Gründen in den Boden geraten sein. Man ist dann natürlich versucht, seine eigenen Kategorien anzulegen, zum Beispiel davon auszugehen, dass die Münze auch damals schon einen hohen Wert hatte
, sagt der Wissenschaftler. Daraus schlussfolgert man dann womöglich, dass jemand sie verloren oder rituell abgelegt hat. Bei einem kaputten Topf dagegen nehmen viele automatisch an, er sei Müll.
Stimmen muss keine dieser Annahmen.
Man kann aus Joghurtbechern Kunst schaffen. Den Plastikmüllbergen wird man damit aber nicht Herr.
KARSTEN NEUHOFF
Auch in der Natur gibt es Reststoffe – Müll, wenn man so will. Hier aber wird alles verwertet. Insekten und Bakterien zersetzen Tierkadaver, Pflanzen gedeihen mittels im Boden gelöster Nährstoffe, werden dann ihrerseits von Pflanzenfressern vertilgt. Hier ist des einen Müll des anderen Ressource. Und das gilt natürlich auch für den Menschen als Teil der globalen Kreisläufe – aber eben nur bedingt.
Die Herausforderung besteht darin, dass wir Kreislaufprozesse nicht über Jahrhunderte hinweg optimiert haben
, kommentiert Wirtschaftswissenschaftler Karsten Neuhoff. Stattdessen produzieren wir heute etliche Sachen, kaufen sie, schmeißen sie weg und kümmern uns dann nicht ausreichend darum, was mit ihnen geschieht.
To-go Becher, Elektronikschrott, tonnenweise Papiermüll: In der Gegenwart schwingen sich die Müllberge zu ganz neuen Höhen auf. Und jedes Jahr wird noch mehr produziert, das am Ende auf der Deponie vergammelt. Nur weil wir in einem solchen Wohlstand leben, können wir uns erlauben, derart unmöglich mit Objekten umzugehen
, so der Archäologe Jens Schneeweiß. Inzwischen produzieren wir sogar Dinge, nur um sie wegzuschmeißen. Verpackungen zum Beispiel. Das wäre früher undenkbar gewesen.
Bis vor wenigen Jahrzehnten war die intensive Nutzung von Alltagsgegenständen daher ökonomisch ziemlich alternativlos. Es gab überall Mehrwegsysteme – zum Beispiel für Milchflaschen
, erinnert sich Karsten Neuhoff vom DIW Berlin. Vieles wurde lange und intensiv genutzt, denn Materialien und auch die Energie, die es brauchte, um Primärstoffe herzustellen, waren teuer.
Dann jedoch spülten neue, günstige Materialien auf den Markt, Produktionsprozesse wurden effizienter, das Einkaufen billiger. In der Folge veränderte sich die Müllkultur – und zwar in rasantem Tempo.
Den abrupten Gesinnungswandel konnte Jens Schneeweiß kurz nach dem Mauerfall selbst miterleben. Zuvor hatten die in der Ostberliner Mangelwirtschaft überall in der Stadt aufgestellten Sperrmüllcontainer den Anwohnenden noch als Fundgrube gedient. Geleert wurden sie etwa alle zwei Wochen, in der Zwischenzeit änderte sich der Inhalt stetig. Nach 1990 mussten diese Container dann täglich geleert werden und selbst das reichte nicht aus: Die Leute haben ihre DDR-Schrankwände weggeschmissen, es musste das neue tolle Zeug aus dem Westen sein. Entsprechend entstanden unglaubliche Müllberge in Ostberlin.

Heute ist es oft deutlich billiger, etwas Neues herzustellen, als etwas Gebrauchtes wiederzuverwenden. So verlaufen Objektbiografien immer häufiger linear: Gegenstände werden ein einziges Mal benutzt und dann direkt verschrottet. Das Problem verschärft sich durch eine historisch nie dagewesene, chemische Materialvielfalt. Die vielen Zusatzstoffe im Plastik sind da symbolisch: Vieles ist heute so zusammengesetzt, dass man es nur in einem ganz bestimmten Kontext nutzen kann
, erklärt Karsten Neuhoff. Was einmal kaputt ist, bleibt in der Folge häufig auch kaputt. Und wo Müll seine Wandlungsfähigkeit einbüßt, hilft dann auch kein Kulturrelativismus mehr. Karsten Neuhoff meint: Man kann vielleicht aus einigen Joghurtbechern ein Kunstwerk schaffen und die Materialien damit aufwerten. Den Plastikmüllbergen wird man damit aber nicht Herr.
Bis vor wenigen Jahren deklarierte Europa seinen Plastikmüll dennoch als Wertstoff, exportierte ihn dann etwa nach China und auf den afrikanischen Kontinent. Die Annahme: Aufgrund niedrigerer Lohnkosten müsse der Müll den Menschen dort als gewinnbringende Fundgrube gelten, er würde entsprechend ganz bestimmt sortiert und recycelt. So haben wir unsere Recyclingquoten in Europa hochgerechnet
, sagt Karsten Neuhoff. Tatsächlich wurde der Müll aber meist einfach nur verbrannt, und die gefährlichen Inhaltsstoffe gingen direkt ins Grundwasser unserer Handelspartner.
Aller kulturellen Unterschiede zum Trotz ist man sich global heute also ziemlich einig – jedenfalls was den Wert von Plastikmüll anbelangt. Manchmal ist und bleibt Müll eben einfach: Müll. Kann man da nicht irgendwie Abhilfe schaffen, umdenken, zu einer Gesellschaftsform kommen, in der Müll einfach gar nicht mehr vorkommt?
Jens Schneeweiß überlegt – und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis. Ich glaube nicht.
Das unglückliche Verhältnis des Menschen zum müllgewordenen Objekt habe so bereits in der Bronzezeit die ein oder andere Umweltkatastrophe heraufbeschworen. Zum Beispiel in der Nähe vom heutigen Bruszczewo in Polen: Vor rund 3.000 Jahren warfen hier Dorfbewohner Abfälle und Fäkalien in den nahegelegenen See – und verschmutzten damit ihre einzige Trinkwasserquelle derart, dass sie krank wurden. Solche Probleme gibt es also schon immer, die Dimensionen sind heute allerdings andere
, sagt Jens Schneeweiß. Das hat viel mit industriellen Produktionsmechanismen zu tun, mit Kunstdüngern, chemischen Rückständen, Mikroplastik, Überkonsum.
Vermutlich werde es auch in der Zukunft noch Abfälle geben, die wir nicht verwerten können. Erstrebenswert fände ich aber zumindest das gesellschaftliche Ziel, so wenig wie möglich davon zu produzieren.
Vielleicht ist eine neue Müllkultur der Wertschätzung näher als wir denken?
Die Erde allein über eine veränderte Preisgestaltung zu entrümpeln, ist vermutlich utopisch. Es wäre gut, wenn die Preise die Umweltkosten unseres Ressourcenverbrauchs und die klimaschädlichen Emissionen, die dabei entstehen, widerspiegeln würden
, sagt Ökonom Karsten Neuhoff. Bislang ist das nämlich oft nicht der Fall: Vieles, was besonders schädlich ist, wird sehr günstig angeboten und wer nachhaltig einkauft, zahlt nicht selten drauf. Hinzu kommt die Macht der Gewohnheit. Ob rauchen, unentwegt Dinge wegschmeißen oder Fahrten mit dem Verbrenner: Häufig siegt diese auch dann, wenn sie dem Planeten, der Gesellschaft, der eigenen Gesundheit schadet. Preiserhöhungen auf schädliche Produkte könnten helfen, hier umzusteuern. Sollen sie allein es jedoch richten, müssten sie sehr saftig ausfallen – so saftig, dass die Preise dann für viele schmerzhaft hoch wären
.
Fest steht: Preisänderungen allein reichen nicht, um unsere Müllkultur zu verändern. Es braucht deutlich mehr – politische Visionen und Ziele zum Beispiel, clevere Mehrweg- und Recyclingkonzepte, einen Normenwandel. Wir müssen lernen, Produkte wieder stärker wertzuschätzen.
Denkbar wäre unter anderem, künftig nur noch einige wenige Zusatzstoffe in Plastik zu erlauben. So könnten Plastikabfälle deutlich besser sortiert und sodann neue, hochwertige Produkte daraus hergestellt werden. Beim Umstieg auf erneuerbare Energien haben wir es gesehen: Erst auf der Grundlage politischer Zielvorgaben wurde eine Vielzahl von Maßnahmen effektiv umgesetzt – zum Beispiel mit Blick auf Regulierung, Planung und Marktdesign
, sagt Karsten Neuhoff. Ähnliches wäre jetzt auch in Hinblick auf Kreislaufwirtschaft wichtig.
Zwischen Mehrweg- und Wegwerfkultur lagen in Deutschland nur wenige Jahre. Vielleicht also ist eine neue Müllkultur der Wertschätzung näher als wir denken. Jedenfalls wenn alle mitziehen – Politik, Verwaltung und Unternehmen ebenso wie die Bürgerinnen und Bürger. Also: Wir.