LEIBNIZ Herr Pawlowski, welche Entdeckung hat Sie zuletzt überrascht?
MARCEL S. PAWLOWSKI Gerade erst haben wir eine Beobachtung gemacht, die wir uns nicht erklären können. Es geht um sehr kleine Galaxien, sogenannte Satellitengalaxien, die wie winzige Begleiter um Galaxien kreisen, wie ein Satellit die Erde. Bei unserer Nachbargalaxie Andromeda sind diese Galaxien ungewöhnlich asymmetrisch auf einer Seite von Andromeda verteilt. Das ist sehr seltsam. Denn es widerspricht unseren am besten untersuchten Modellen über die Entwicklung des Universums, nach denen sie sich eigentlich ganz zufällig im Raum anordnen sollten. Laut Computersimulationen kommt ein Muster wie das von uns beobachtete nur bei weniger als einem Prozent der Galaxien vor.
Macht das Andromeda zu einer untypischen Galaxie?
Zumindest ist ihr Erscheinungsbild außerordentlich selten. Es könnte natürlich reiner Zufall sein, dass wir diese Verteilung ausgerechnet bei Andromeda sehen. Hinzu kommt aber, dass sich die Hälfte der Satellitengalaxien von Andromeda in einer sehr flachen Ebene aufhalten und sich scheinbar auch in dieser bewegen. Von unserer Galaxie, der Milchstraße, kennen wir diese auffällige Anordnung auch. Auch hier wird diskutiert, ob es sich dabei eben nur um einen Zufall handelt, merkwürdig ist das aber schon. Man fängt an dieser Stelle an, sich zu fragen, ob mit unseren Theorien etwas nicht stimmt. Das sogenannte Standardmodell der Kosmologie
beschreibt in den meisten Fällen sehr gut, wie sich das Universum seit seiner Entstehung bis heute entwickelt hat. Doch hin und wieder stößt es an seine Grenzen. Jetzt fragen wir uns, ob unser Verständnis der Galaxienbildung auf der kleinen Skala wie bei einer Satellitengalaxie unvollständig ist. Das macht den Raum frei für alternative Theorien und hitzige Diskussionen.
Wie wird mit diesem Problem unter Forschenden umgegangen?
Während meiner Doktorarbeit im Bereich der Dunklen Materie gab es relativ kontroverse, teils sogar lautstarke Auseinandersetzungen, und alternative Theorien wurden schnell abgelehnt. In den vergangenen Jahren hat sich das geändert. Ich habe das Gefühl, wir sind deutlich friedlicher geworden. Es gibt einfach Probleme, die wir bis jetzt nicht gelöst haben und die anerkannte Theorien nicht erklären können. Das führt dazu, dass das Feld offener geworden ist und alternativen Ideen mehr Raum gegeben wird. Trotzdem gibt es auch noch immer sehr dogmatische Ansichten.

Erst kürzlich haben Sie ein Buch veröffentlicht, in dem Sie beschreiben, wie die Astrophysik mit solchen Widersprüchen umgeht.
Irgendwo in meinem Hinterkopf hatte ich schon immer die Idee, mal ein Buch zu schreiben. Dann wurde ich von einem Literaturagenten angesprochen, der einen meiner Artikel gelesen hatte, und eins führte zum anderen. Mir macht es Spaß, Wissenschaft zu erklären, und ich sehe es als Wissenschaftler auch als meine Pflicht, unsere Erkenntnisse nach außen zu tragen. Astronomie begeistert viele Menschen. Über die Faszination Weltall kommen manche junge Menschen überhaupt erst auf die Idee, ein wissenschaftliches Studium zu beginnen. Womöglich landen sie am Ende in einem komplett anderen Bereich, aber man kann schon sagen: Astronomie ist oft die Einstiegsdroge für die Naturwissenschaften.
Aber warum genau dieses Thema?
Mir ist es dabei auch wichtig, zu zeigen, vor welchen Herausforderungen wir in der Astronomie stehen. Weil wir nun mal auf der Erde festsitzen und die Astronomie zwangsläufig eine beobachtende Wissenschaft ist, ist die Forschung etwas speziell. Wir müssen darauf warten, bis das Universum uns ein Experiment präsentiert und dann nehmen, was kommt. Deshalb ist es besonders wichtig, sich zu überlegen, was mögliche Messfehler sein können, die man vielleicht im Labor gut kontrollieren und damit ausschließen könnte. Man muss sich immer fragen: Stimmen die Beobachtungen überhaupt?
Wie viel Raum geben Sie in Ihrer Forschung alternativen Theorien?
Schon mein Doktorvater hat mir vorgelebt, dass Theorien auf Herz und Nieren getestet werden müssen. Das schafft Platz für alternative Ansätze. Meine erste Anstellung nach der Promotion führte mich zu Stacy McGaugh an die Case Western Reserve University in Cleveland. Er ist sehr bekannt für seine Arbeiten an der modifizierten Gravitationstheorie, kurz MOND. Das ist eine Alternative zum gängigen Dunkle-Materie-Modell, die in der Fachwelt aber nicht annähernd denselben Stellenwert hat. Einfach gesagt steht MOND für Modifizierte Newtonsche Dynamik
und beschreibt die Theorie, dass die bekannten Gesetze der Schwerkraft bei verhältnismäßig sehr kleinen Beschleunigungen im Universum nicht mehr passen. Dagegen geht die bis heute bekannteste Theorie im Standardmodell der Kosmologie, besagtes Dunkle Materie-Modell, davon aus, dass es eine unsichtbare Materie geben muss, die durch ihre Schwerkraft die Bewegung von Galaxien beeinflusst. In den meisten Fällen lassen sich unsere Beobachtungen damit sehr gut erklären, weswegen das Modell auch so beliebt ist. Hin und wieder, wie im Fall der Satellitengalaxien, klappt das aber scheinbar nicht. Berechnungen mit MOND liefern dagegen eine mögliche Erklärung für unsere Beobachtung. Vielleicht stammt daher meine Offenheit für verschiedene Perspektiven.
Astronomie ist oft die Einstiegsdroge für die Naturwissenschaften.
MARCEL PAWLOWSKI
Geben Sie diese Offenheit an jüngere Kolleginnen und Kollegen weiter?
An unserem Institut leite ich die Leibniz-Junior-Forschungsgruppe Kosmische Choreographien
, in der betreue ich je zwei Doktoranden und Postdocs. Ich lege großen Wert darauf, dass sie mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen arbeiten, denn wer Alternativen ernsthaft in Betracht zieht, versteht auch die etablierten Standardmodelle besser. Stacy McGaugh hatte dafür eine schöne Metapher: Er setzte sich entweder seinen Dunkle-Materie-Hut
oder seinen modifizierte-Gravitation-Hut
auf, um ein Problem aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Das hilft der Kreativität und letztlich der Lösung von Problemen.
Welchen Hut setzen Sie sich auf? Haben Sie eine Präferenz für Dunkle Materie oder MOND?
Ich versuche, mich irgendwo im Mittelfeld zu bewegen. Die Theorie der Dunklen Materie funktioniert auf großen Skalen wirklich gut. Damit sind gigantische Dimensionen wie ganze Cluster an Galaxien gemeint, also unvorstellbare Größen. Aber auf kleineren Skalen, einer einzelnen Galaxie beispielsweise, passen die Berechnungen mit der Dunklen Materie teils nicht zu den tatsächlichen Beobachtungen. Insbesondere bei der Dynamik und Verteilung von kleineren Galaxien gibt es Diskrepanzen. Wenn wir aber hier in den Berechnungen die Gravitationstheorie modifizieren, liefert MOND erstaunlich gute Ergebnisse. Wie soll man sich da festlegen?
Wie versuchen Sie, in dieser Diskussion einen kühlen Kopf zu bewahren?
Ich versuche möglichst offen die verschiedenen Alternativen aufzuzeigen. Ich habe das Gefühl, das bleibt zu häufig auf der Strecke. Schnell entsteht ein Wir-gegen-Die-Gefühl: Auf der einen Seite gibt es natürlich sehr viele Leute, die mit dem Standardmodell arbeiten, und dann gibt es die MOND-Community. Dazwischen gibt es nur wenige, die wirklich offen sind. Dabei wäre genau das wichtig, damit wir im Forschungsfeld vorankommen. Zumal wir in der Astrophysik seit Jahrzehnten immer die Erwartung hatten, dass wir in den folgenden fünf Jahren das Dunkle Materie Teilchen entdecken. Das ist bislang nicht passiert.

Sehen Sie es als Ihre Aufgabe an, den Mittelsmann zu spielen?
Ja. Und das ist ganz interessant, weil teilweise werde ich zur MOND-Community gezählt, aber eigentlich trage ich gar nicht so viel zu dieser Forschung bei. Ich führe eher Gespräche und kritisiere auch hin und wieder das Standardmodell, wenn es halt mal irgendwo nicht passt. Aber nicht unbedingt mit dem Ziel, MOND als die endgültige Alternative zu präsentieren. Dennoch müssen wir uns der Tatsache stellen, dass unsere Berechnungen teilweise nicht mit den Beobachtungen übereinstimmen. Dann ist es eigentlich auch egal, ob es nun die modifizierte Gravitation ist, die dafür sorgt oder ein anderer Prozess – wir müssen eine Erklärung für die ungelösten Probleme finden.
Ist es nicht frustrierend, dass die Forschung das Rätsel der Dunklen Materie seit der ersten Idee vor fast 100 Jahren noch immer nicht lösen konnte?
Theorien zu testen und so herauszufinden, wo sie nicht standhalten, ist der Kern wissenschaftlicher Arbeit. Über die Jahrzehnte konnten wir auf diese Weise viele Möglichkeiten ausschließen, wissen also, was Dunkle Materie alles nicht sein kann. Manchmal geht es aber auch darum, zu verstehen, was nötig wäre, um eine vermeintlich gescheiterte Theorie doch noch zu retten. Im Grunde machen wir also einen Stresstest für wissenschaftliche Modelle. Frustrierend wird es nur, weil wir in der Astrophysik oft wirklich lange auf neue Daten warten müssen. Um die Bewegung von Galaxien zu messen, müssen zwischen den Beobachtungen Jahre vergehen, um winzige Veränderungen in ihrer Position nachvollziehen zu können. In meinem Buch veranschauliche ich das mit einem Beispiel: Stellen wir uns vor, auf dem Mond lebt eine Astronautin und wir wollen bestimmen, wie schnell ihre Haare wachsen. Vor Ort können wir das sehr exakt feststellen: Nach einem Jahr sind ihre Haare im Durchschnitt um 15 Zentimeter gewachsen. Wollen wir messen, welche Strecke eine ganze Galaxie in einem bestimmten Zeitraum zurücklegt, ist das so, als müssten wir nun von der Erde aus messen, wie schnell ihre Haare wachsen. Satellitengalaxien bewegen sich zwar mit hunderten von Kilometern pro Sekunde, sie sind aber auch unfassbar weit entfernt: Während der Mond einige hunderttausend Kilometer entfernt ist, sind es bei Satellitengalaxien einige Trillionen Kilometer. Und so ist ihre scheinbare Geschwindigkeit am Himmel so gering wie der Haarwuchs in Mondentfernung. Man muss zwischen Messungen fünf, zehn, manchmal zwanzig Jahre warten, um eine Veränderung zu bemerken. Das ist also eine ganz andere Dimension.
Verlosung

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.
Wenn Sie an der Verlosung teilnehmen möchten, schreiben Sie bitte eine E-Mail mit dem Stichwort Andromeda
an: verlosung(at)leibniz-gemeinschaft.de.
Einsendeschluss ist der 15. Juni 2025. Die Gewinner werden von uns per E-Mail benachrichtigt. Wir wünschen Ihnen viel Glück!