Der Eisbär tanzt auf der Brücke. Majestätisch wiegt er seinen Kopf im Rhythmus und lässt sich von Passanten zum Tänzchen bitten. Im Kostüm steckt ein Klimaaktivist. Noch traut sich meine sechsjährige Tochter Fanny nicht so recht ran an die pelzige Kreatur. Ich krame im Rucksack nach einer alten Kompaktkamera. Schließlich finde ich den Apparat und mit einem Klick werden auf dem Film in der Kamera Fanny, der Bär und flanierende Passanten belichtet. Anschließend rattert es in der Kamera. Automatisch wird der belichtete Film in seine lichtundurchlässige Patrone zurückgespult. Plötzlich höre ich ein ungutes Knirschen: Die Transporträdchen greifen nicht mehr. Obwohl ich meiner Diagnose sicher bin, öffne ich die Kamera und sehe das Unglück: Der Film ist gerissen! Licht flutet auf das Negativ – und noch wurden die latenten Bilder nicht chemisch fixiert. Schnell schließe ich das Gehäuse wieder. Hoffentlich sind nicht alle Aufnahmen für immer verloren!
»Verweile doch, du bist so schön«, ruft Goethes Faust dem Augenblick hinterher. Diesen festzuhalten scheint heute einfach geworden zu sein. Beinahe jede Person trägt einen Fotoapparat bei sich: in Form einer App auf dem Smartphone. Aber lange Zeit war es ein unlösbares Problem Lichtbilder nicht nur zu einzufangen, sondern auch dauerhaft sichtbar zu machen. Vor 188 Jahren gelang Franz von Kobell, einem der ersten Fotopioniere, das Fixieren eines Lichtbildes. Gerade vier mal vier Zentimeter misst die Aufnahme der Münchener Frauenkirche, die ihm glückte.

Es ist März 1837, als der junge Mineraloge Franz von Kobell einen kleinen hölzernen Kasten auf das Fensterbrett seines Arbeitszimmers an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften stellt. Zuvor hatte er in Dunkelheit ein durch Silbersalzlösung lichtempfindlich gemachtes Papier eingelegt. Nun entfernt Kobell den Deckel vor der eingebauten Linse: Tageslicht scheint auf das Papier.
Auf dem Lichtbild, das heute in den Sammlungen des Deutschen Museums in München aufbewahrt wird, erkennt man, dass Kobell den Ort gut gewählt hatte: Die Öffnung der Kiste sah in einem schrägen Winkel hinauf zu den Zwillingstürmen der Frauenkirche. Die Belichtung dauerte mehrere Stunden. Zeit, in der die selbstgebaute Kamera möglichst ruhig stehen muss, damit die Aufnahme nicht verwackelt. Wie die Stunden vergingen, ist bis heute sichtbar: auf den Zifferblättern der zwei Turmuhren. Die Zeiger sind, winzig klein und verwischt, auf dem Salzpapier kaum zu erkennen. An diesem Tag entstand so eine der ersten Fotografien weltweit und die erste in Deutschland – gut zwei Jahre früher als Fotohistoriker bislang dachten.
Es sollte zwar noch Jahrzehnte dauern bis die Technik praktikabel wurde, aber dank Kobell war hier ein Anfang gemacht, auf dem die rasch aufblühende Münchner Fotografie aufbauen konnte. Bis dahin waren vor allem die Probleme rund um die chemische Fixierung fotografischer Aufnahmen noch nicht gelöst worden. Dem Münchner Mineralogen Kobell war der Umgang mit Chemikalien vertraut. Er experimentierte und fand heraus, wie er Zeichenpapier in einer Silbersalzlösung lichtempfindlich machen konnte. Dieses handgemachte »Fotopapier« musste in völliger Dunkelheit präpariert und in die Kamera eingelegt werden. Bekannt war damals die Camera obscura, die seit Ende des 17. Jahrhunderts von Künstlern als Zeichenhilfe verwendet wurde. In diesem tragbaren Gerät wurde das Bild der Außenwelt mit Hilfe von Linsen und Spiegeln auf eine Mattscheibe projiziert. Damit sich eine Camera obscura sinnvoll nutzen lässt, darf das auf die Mattscheibe projizierte Bild jedoch nicht zu klein sein. Das Miniaturformat von Kobells Aufnahmen spricht deshalb dafür, dass er wohl ein einfacheres Gerät verwendet hat – im Prinzip wohl einen schlichten kleinen Kasten mit Linse.

1837, also zwei Jahre nachdem Kobell seine ersten Fotografien gemacht hatte, verfolgte eine gespannte Öffentlichkeit das Kopf- an Kopfrennen zweier Konkurrenten: In England experimentierte der Universalgelehrte William Henry Fox Talbot mit Papiernegativen, in Paris der Maler Jacques Daguerre mit Glaspositiven. Doch erst 1839 publizierten beide über ihre unterschiedlichen Methoden. Vielerorts meldeten andere Ansprüche an, bereits früher ähnliche Erfindungen gemacht zu haben. Doch Kobell ging es nicht darum, aus seiner Erfindung Kapital zu schlagen. Ihn hatte lediglich das Experiment gereizt.
Franz von Kobell verfolgte die Fotografie bald nur noch als Beobachter. Verglichen mit der zeitgenössischen Malerei – sein Onkel Wilhelm war Professor für Landschaftsmalerei an der Kunstakademie – müssen ihm seine Fotografien als kaum konkurrenzfähig erschienen sein. Das vermutet zumindest die Kunsthistorikerin Cornelia Kemp, Kuratorin am Deutschen Museum, wo die gesamten fotografischen Experimente von Kobell zu finden sind. Jahrzehntelang war seine erste Fotografie der Teil der Dauerausstellung, allerdings datiert auf das Jahr 1839.
Kobell hatte sein Negativ zwar auf der Rückseite selbst datiert, doch weil es auf Karton aufgeklebt war, wurde die handschriftliche Notiz erst spät entdeckt. Auch als eine Mitarbeiterin des Museums in den 1990er-Jahren bei der Montage der Aufnahme in ein neues Passepartout die Aufschrift erstmals bemerkte, ging die Entdeckung im Alltagsstress unter. Erst vor Kurzem konnte Cornelia Kemp die Datierung durch orthografische Untersuchungen und biografische Forschungen verifizieren und ihre Erkenntnisse publizieren. Heute lagert das Negativ zusammen mit 13 weiteren kleinformatigen Aufnahmen lichtgeschützt und gekühlt im Archiv des Museums. Durch die Neudatierung ist Kobell in die Reihe der Pioniere der Fotografie aufgerückt. Als Autor hingegen ist er zumindest in Bayern nie vergessen worden: Seine Erzählung »Der Brandner Kaspar und das ewige Leben« ist ein unverwüstlicher Dauerbrenner in Münchner Theatern und wurde zuletzt mit Michael »Bully« Herbig fürs Kino verfilmt.

Mich fasziniert an der analogen Fotografie noch heute das Unvorhersehbare, das Experimentelle. Voller Hoffnung, aber immer auch nah am Rande der Verzweiflung fiebere ich dem entwickelten Film entgegen. Ist es mir gelungen im richtigen Moment abzudrücken? Die spontan im Alltag geglückte Aufnahme wird gern als Schnappschuss oder Snapshot bezeichnet. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Entenjagd. Kobell frönte seiner Leidenschaft für die Jagd, legte gemeinsam mit Herzog Max von Bayern auf Hirsche an. Meinen gerissenen Film, noch im Inneren der Kamera, bringe ich schließlich ins Fotolabor. Der Laborant wird in einer Dunkelkammer die Kamera öffnen und meinen Film herausholen. Anschließend wäscht eine Maschine in verschiedenen Bädern die lichtempfindlichen Chemikalien heraus und fixiert die Fotos als Negativbilder.
Auf der belichteten Aufnahme schaut der Eisbär vor einem strahlend blauen Himmel in der Mitte des Bildes zwischen den vorbeigehenden Passanten umher. Gelbe, orange und rote Lichtstrahlen färbten das untere Drittel, in dem Fanny die Szene betrachtet. Dieser Effekt entstand nachträglich, nachdem das eigentliche Bild bereits aufgenommen war, weil ich die Kamera öffnete. Unkontrolliert kam Licht hinzu, welches das Negativ weiter belichtete. Gerade dieser Unfall fügte der Szene ein surreales Element hinzu, dass die Atmosphäre der Situation unterstreicht und das Foto zu einer außergewöhnlich gelungenen Aufnahme macht. Ein Malheur, das Kobell bestimmt geärgert hätte.
