LEIBNIZ Frau Wittke, Sie haben gemeinsam mit der Journalistin Mandy Ganske-Zapf ein Buch über den Krieg in der Ukraine geschrieben. War es nicht ein riskantes Vorhaben, ein Buch über ein Thema zu schreiben, bei dem oft schon die Tageszeitungen am nächsten Morgen nicht mehr aktuell sind?
CINDY WITTKE Uns war bewusst, dass wir uns mit einem hochdynamischen Konflikt beschäftigen. Deshalb wollten wir vor allem größere Linien und Hintergründe abseits der Tagesaktualität darstellen – Aspekte, die in Talkshows oder Interviews oft zu kurz kommen. Dafür eignet sich ein populärwissenschaftliches Buch sehr gut. Denn eins war uns klar: Das Thema Friedensverhandlungen würde relevant bleiben, egal, wie der Krieg sich entwickelt. Gleiches gilt, wenn sich Ereignisse auf dem diplomatischen Parkett überschlagen, wie jetzt bei den bilateralen Verhandlungen zwischen den USA und Russland am 18. Februar in Saudi-Arabien.
Worauf haben Sie Ihren Fokus gelegt?
Darauf, was es heißt, mit Russland als Konfliktpartei Frieden zu verhandeln und Friedensabkommen umzusetzen. Wir ziehen Lehren aus den Minsker Abkommen, die von 2014 bis 2022 den Konflikt in und um die östliche Ukraine regeln sollten – ohne Erfolg. Wir gehen aber noch tiefer und beschreiben Russlands strategisches Verhalten in den zahlreichen ungelösten Territorialkonflikten und „eingefrorenen“ Konflikten im sogenannten post-sowjetischen Raum in den vergangenen 30 Jahren. Außerdem fragen wir, welche Art von Frieden wir in Europa erreichen wollen und wie die europäische Sicherheitsarchitektur nach einem Waffenstillstand oder Friedensschluss aussehen soll: Reicht uns schon negativer Frieden, also die Abwesenheit von Gewalt – oder brauchen wir mehr?
Man gewinnt keine Wählerstimmen mit Aussagen wie ›Es ist kompliziert und wird frustrierend‹.
Die politische Debatte klingt oft so, als gebe es entweder Friedensverhandlungen oder die militärische Unterstützung der Ukraine. Der Titel Ihres Buches Frieden verhandeln im Krieg
klingt aber nach einem Sowohl als auch
.
Politiker müssen sich positionieren. Schließlich gewinnen sie keine Wählerstimmen mit Aussagen wie Es ist kompliziert und wird frustrierend.
Das aber ist genau unsere Aussage: Verhandlungen mit Russland, einer Nuklearmacht mit Vetorecht im UN-Sicherheitsrat, bergen viele Unbekannte. Es ist schwierig, auf einen so aggressiv auftretenden Akteur einzuwirken. Russland braucht aktuell keine Verhandlungen, um seine Ziele zu erreichen: die dominante Macht im post-sowjetischen Raum zu sein und die Existenz der Ukraine als souveräner Staat zu bedrohen oder gar zu beenden. Die neue US-Regierung unter Donald Trump versucht, diese Situation aufzubrechen, indem sie Russland das gibt, was es seit Langem will: direkte und exklusive Verhandlungen mit den USA. Es hätte ein entscheidender Wendepunkt hin zu echten Friedensverhandlungen sein können, wenn die Vereinigten Staaten dies genutzt hätten, um Vertrauen zu schaffen und Russland in ein Netz von Verhandlungen und Kompromissen einzuweben mit dem Ziel, eine Roadmap zum Frieden zu formulieren. Wenn aber am Ende die Existenz der Ukraine und letztlich auch die Sicherheitsarchitektur auf dem Tischliegt, aber nicht mit der Ukraine am Tisch verhandelt wird – und auch nicht mit den europäischen Partnern des Landes – , dann wäre ein schneller Frieden nur ein Intervall bis zur nächsten Eskalation des Konfliktes. Die Gefahr: Russland könnte das als Signal verstehen, dass sich ein Angriffskrieg auf lange Sicht lohnt – in Form vom Territorialgewinnen.

Momentan scheint es unrealistisch, dass die Ukraine die von Russland besetzten Gebiete im Osten oder auf der Krim zurückerobern kann. Könnten Gebietsabtretungen nicht doch eine Lösung sein?
Ein solcher Land-for-Peace-Ansatz würde bedeuten, dass die Menschen in den betroffenen Gebieten unter russische Besatzung geraten. Sie würden dann zum Beispiel außerhalb der europäischen Charta für Menschenrechte leben und wären von Unterdrückung und Gewalt bedroht. Das müssen wir uns vor Augen führen und das müsste als Ergebnis von der Ukraine und ihren Unterstützern letztlich akzeptiert werden. Und nochmal: Russland könnte sich in seiner Strategie bestärkt sehen und zu einem späteren Zeitpunkt erneut angreifen. Wir erleben bereits jetzt versteckte Aggressionen, etwa in der Ostsee. Von daher sind Gebietsabtretungen mitnichten ein einfacher Ausweg.
Das klingt nach einem Dilemma.
Weder die Ukraine noch ihre Partner können Interesse an einem unter Zeitdruck und Zwang abgeschlossenen und schlecht verhandelten Friedensabkommen haben. Ist so eine Übereinkunft erst einmal getroffen, lässt sich das Paket schwer wieder aufschnüren. Wir schlagen stattdessen Inseln der Übereinkunft
zwischen den kriegführenden Parteien vor. Es handelt sich dabei um Übereinkünfte, die durch Dritte wie etwa die Vereinten Nationen vermittelt werden und zeitlich sowie thematisch begrenzt sind. So greifen sie keinem umfassenderem Friedensabkommen vor. Ein Beispiel ist der von der Türkei vermittelte Getreide-Deal aus dem Jahr 2022/23.
In welchen weiteren Bereichen bieten sich diese Inseln der Übereinkunft
an?
Die Themen liegen im Grunde schon seit Selenskyis 10-Punkte-Friedensplan vom November 2022 auf dem Tisch: Gefangenenaustausch, die Sicherheit von Atomanlagen im Kampfgebiet, die zivile Energieversorgung und die Vermeidung von massiven Umweltschäden.
Nun hat Russland unter Präsident Putin bislang so ziemlich jedes Abkommen gebrochen.
Ganz pragmatisch könnten wir sagen: Inseln der Übereinkunft sind so lange gut, wie sie halten. Das Getreideabkommen zum Beispiel hat zumindest für eine gewisse Zeit einen relativ ungehinderten Getreideexport ermöglicht. Ja, es ist schließlich gescheitert, aber es hat auch eine Weile funktioniert. Wichtig ist es, den Dialog offen zu halten. Denn selbst wenn Vereinbarungen scheitern, lernen wir viel über Russlands Präferenzen und Verhalten.
Wie könnten Verhandlungen über solche Inseln der Übereinkunft
ablaufen?
Wichtig ist vor allem ein abgestimmtes Vorgehen der ukrainischen Partner. Alleingänge erwecken den Anschein von Uneinigkeit und sind Futter für Russlands Propaganda. Beispiele dafür gab es ja leider bereits einige, und die bilateralen Verhandlungen zwischen den USA und Russland boten dem Kreml eine ganz neue Bühne für seine Maximalforderungen. Mit Russland zu verhandeln und es zugleich diplomatisch effektiv unter Druck zu setzen, ist eine extrem schwierige Gratwanderung. Die Ukraine aber hat viel Erfahrung im Umgang mit Russland als aggressivem Gegenüber – diplomatisch und auf dem Schlachtfeld. Dieser Erfahrung sollten die Europäer mehr Vertrauen schenken und die Ukraine vor allem unterstützen.

Was ist dafür notwendig?
Wer die Ukraine schützen will, sollte sie in eine Verhandlungsposition der Stärke bringen. Dafür braucht es Waffen, Wiederaufbauhilfe und Sicherheitsgarantien. Die USA werden sich als Vermittler präsentieren wollen, faktisch aber vor allem ihre Exitstrategie durchdrücken wollen. Die militärische, diplomatische und wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine sind Seiten derselben Medaille – und werden langfristig vor allem Aufgabe der Europäer sein. Europa braucht bei der Unterstützung der Ukraine eine klare Strategie, auch im Interesse der eigenen Sicherheit. Aktuell herrschen vor allem Angst und Ratlosigkeit. Doch die Zeit drängt. Die Ukraine steht in ihrem Verteidigungskampf weiter unter Druck. Im Gegensatz zu Russland braucht sie einen nachhaltigen Frieden und eine stabile und sichere Nachkriegsordnung. Ein schnelles, aber nicht ausgewogenes und schlecht abgesichertes Abkommen, – häufig als „schmutziger“ Frieden bezeichnet –, könnte sich mittel- und langfristig negativ auf die politische Stabilität auswirken, nicht nur auf die der Ukraine, sondern auch auf die des gesamten europäischen Kontinents.
Europa hat die Zeitenwende ziemlich lange verschlafen und sich auf überholten Sicherheitsstrukturen ausgeruht.
Also zwingt Trumps Politik Europa zum Handeln?
Es wird häufig von einem Weckruf für Europa gesprochen. Auf diesen warte ich schon länger. Die Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Scholz im Februar 2022 hätte ein Weckruf sein sollen, aber im Grunde hatten wir schon damals die Zeitenwende längst verpasst. Aus osteuropäischer Sicht hat die nämlich schon 2008 mit dem russisch-georgischen Krieg oder spätestens 2014 mit der Annexion der Krim und dem Angriff im Donbas stattgefunden. Der russische Eroberungskrieg folgte 2022 auf acht Jahre hybriden Krieg. Europa hat die Zeitenwende also ziemlich lange verschlafen und sich auf überholten Sicherheitsstrukturen ausgeruht. Schließlich haben sich die USA in Bezug auf die Ukraine schon seit Präsident Obama immer mehr zurückgehalten. Jetzt muss Europa die verpassten Hausaufgaben nachholen: Gemeinsam handeln und Stärke demonstrieren. Das ist die Sprache, die im Kreml und im Weißen Haus unter Donald Trump verstanden wird.
Könnten die Inseln der Übereinkunft
und ein einiges Europa uns über die Zeit retten, bis Putin Geschichte ist?
Auf ein Abdanken oder Ableben des 73-jährigen Putin zu hoffen, löst das eigentliche Problem nicht. Die politischen und militärischen Strategien und Strukturen bleiben ja erhalten, Putin ist nur die Spitze eines größeren Systems. Autoritäre Regime können zwar immer kollabieren – mitunter auch sehr plötzlich, aber wir müssen davon ausgehen, dass der Kreml in der Ukrainefrage ein extrem schwieriger Verhandlungspartner bleibt, mit oder ohne Putin. Das gilt vor allem, wenn ein Nachfolger aus dem Apparat nachrücken sollte. Deshalb personalisieren wir in unserem Buch den Konflikt möglichst wenig und reden zum Beispiel von Russland unter Putin
.
Gibt es denn gar keinen positiven Ausblick?
Wenn sich die Europäer auf ihre gemeinsamen Werte besinnen und zusammenstehen, könnten wir aus dieser existentiellen Bedrohung durchaus gestärkt hervorgehen. Dafür müssten wir aber bereit sein, diese gemeinsamen Werte zu verteidigen: politisch, aber zur Not auch militärisch.
In ihrem Buch verbindet Cindy Wittke ihre zwanzigjährige Forschungserfahrung an der Schnittstelle von Politik- und Rechtswissenschaft mit der journalistischen Expertise ihrer auf Osteuropa und Russland spezialisierten Ko-Autorin Mandy Ganske-Zapf. Wir verlosen drei Exemplare von Frieden verhandeln im Krieg
. Wenn Sie an der Verlosung teilnehmen möchten, schreiben Sie bitte eine E-Mail mit dem Stichwort Ukraine
an verlosung(at)leibniz-gemeinschaft.de. Einsendeschluss ist der 30. April 2025. Die Gewinner werden von uns per Email benachrichtigt.