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Die Sonne scheint auf die grünen, mit allerlei Obstbäumen bestandenen Hänge, unten im Tal liegt die Stadt Almaty. Wassilissa Kuanyshewa, 42, steht vor den Trümmern eines Hauses, zerstört auf richterliche Anordnung. Sie wirkt zufrieden. Die Ruine ist ihr größter Triumph. Das Immobilienunternehmen »Der Traum« hatte den mehrstöckigen Bau illegal in einem Garten errichten und dafür Hunderte Apfelbäume abholzen lassen. Der Boden an den Hängen ist gut für Bäume, nicht für Häuser. Da keine Wurzeln mehr das Wasser halten, kommt es zu Erdrutschen, sagt Vassilssa Kuanyshewa, die die Klage gegen den Neubau eingereicht hat. Sie träumt davon, wieder Apfelbäume wachsen zu sehen, wo sich jetzt noch ein Haufen Schutt auftürmt.

Almaty liegt am Fuss des Tian-Shan-Gebirges. In der Sowjetunion hiess die grösste Stadt Kasachstans Alma-Ata, was Apfelstadt bedeutet. Steinerne Äpfel zieren Brunnen, Bushaltestellen sind nach den Umrissen eines Apfels gestaltet, und wie in Zürich einst bemalte Kühe, so stehen auf Almatys Bürgersteigen Äpfel im Weg. Wassilissa Kuanyshewa ärgert sich über den Kitsch aus buntem Plastik. Sie findet, ihre Heimatstadt solle lieber die Gärten schützen, denen sie ihren Namen verdankt. Sie drohten zu verschwinden.

Nach der Unabhängigkeit Kasachstans 1991 wurden die Plantagen, die bis dahin von Kolchosen bewirtschaftet worden waren, privatisiert. Viele der neuen Besitzer:innen vernachlässigten die Pflege der Bäume und verkauften die Gärten rasch wieder. Sie wurden Spekulationsobjekte. Almaty ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten rasant gewachsen. Seine Fläche hat sich verdoppelt. Immer mehr Häuser ziehen sich die Hänge hinauf, auch wenn für viele keine Baugenehmigung erteilt wurde.

Wassilissa Kuanyshewa hat zum Spaziergang durch die verwilderten Gärten Pfannkuchen und Apfelkompott mitgebracht. Beim Picknick zeigt sie auf ihrem Handy Fotos von Lastern, auf denen das Holz gefällter Apfelbäume transportiert wird. »Schützt die Berge« nennt sich die kleine Gruppe von Aktivist:innen, die sie vor drei Jahren gegründet hat. Seitdem hat sie den Bürgermeister besucht, einen Brief an den Präsidenten geschrieben und Menschenketten um bedrohte Apfelgärten organisiert. Die Behörden sind verärgert, lassen sie aber gewähren. Ihr Einsatz ist im autoritär regierten Kasachstan nicht ohne Risiko. Es gab Drohungen. Leute hätten ihr gesagt, wenn sie nicht endlich aufhöre, könne ihr etwas passieren. Sie aber will weiterkämpfen und hofft, die Ruine schrecke andere Baufirmen ab.

Wassilissa Kuanyshewa träumt davon, in ihrer Heimatstadt wieder Apfelbäume wachsen zu sehen.
Durch die intensive Abholzung kommt es in den Bergen bei Almaty zu Boden-Erosion.

In den vom Verschwinden bedrohten Gärten wachsen viele Apfelsorten. Neben dem nur in Almaty angebauten Aport, groß, schwer und süß duftend, finden sich an steileren Hängen vereinzelt auch noch Bäume des Malus sieversii. Der Urahne all unserer domestizierten Äpfel. So wie wir Menschen alle irgendwie von Lucy abstammen, sind unsere modernen Äpfel Nachkommen von Malus sieversii. Es soll ihn seit 30 Millionen Jahren geben. Ein lebendes Fossil. Schon die Dinosaurier haben die Äpfel gefressen, sagen sie in Kasachstan stolz.

Das amerikanische Boyce-Thompson-Institut der Cornell-Universität, das sich dem Anbau von Nutzpflanzen widmet, hat das Genom von 117 modernen Apfelsorten und 23 Wildapfelarten analysiert: Rund 45 Prozent der DNA unserer Kulturäpfel stammen vom kasachischen Wildapfel. Anders als unsere auf Geschmack und Grösse gezüchteten modernen Äpfel sind die Äpfel aus Kasachstan widerstandsfähiger gegen Krankheiten und Insekten, Hitze und Kälte. Heute sehen viele Wissenschaftler:innen in der genetischen Vielfalt des kasachischen Wildapfels eine einmalige Ressource, um unsere modernen, auf höchste Erträge gezüchtete Apfelsorten robuster gegen die Folgen des Klimawandels zu machen.

Die Pflanzen können nicht mit dem Klimawandel Schritt halten.

KERSTIN NEUMANN

Zwar besitzen Pflanzen wie Apfelbäume Möglichkeiten, sich an Stresssituationen anzupassen, sie können zum Beispiel Wurzeln mehr in die Tiefe wachsen lassen, Stomata (die Poren in der Pflanzenhaut) öffnen und schließen und somit weniger Wasser verdunsten lassen (bei Trockenheit) oder mehr (bei Hitze zur Kühlung). Aber dies geht nur bis zu einem bestimmten Grad, erläutert Kerstin Neumann vom Leibniz Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung in Gatersleben, wo die Biologin seit Jahren die Arbeitsgruppe »Automatisierte Pflanzenphänotypisierung« leitet: Ohne menschlichen Einfluss können sich diese Pflanzen nicht schnell genug anpassen, um mit dem sich beschleunigenden Klimawandel Schritt zu halten.

Weltweit gibt es Tausende von Apfelsorten, die wegen ihres besonderen Aromas, ihrer Farbe, ihres Aussehens gezüchtet wurden. Trotz der Vielfalt machen nur 30 Sorten 90 Prozent der weltweit angebauten Äpfel aus. Diese auf grossen Ertrag gezüchteten High Performer sind besonders anfällig für Krankheiten wie den Apfelschorf, eine Pilzerkrankung, oder den Feuerbrand, der ganze Bäume zum Absterben bringen kann. Apfelplantagen werden in der kommerziellen Landwirtschaft manchmal bis zu 50-mal pro Saison gespritzt.

Der Klimawandel verursacht mildere Winter, was dem Apfelbaum Probleme bereitet, denn er benötigt eine bestimmte Anzahl von Kältestunden, so dass er im Frühling richtig blüht, sagt Kerstin Neumann. Weiterhin führen höhere Wintertemperaturen auch zu einer früheren Blüte – tritt dann aber noch Frost auf, kann dies zu einem geringeren Fruchtansatz führen bis hin zu einem Totalausfall. Auch Trockenheit und Hitze setzen Apfelbäumen zu und führen zu einer reduzierten Erntemenge, kleineren Früchten und geringerer Qualität. Weitere Probleme seien eine früher beginnende und länger andauernde Schädlingssaison sowie eine Ausbreitung von nicht einheimischen Schädlingen und Krankheitserregern.

Noch mehr Pestizide können nicht die Lösung sein. Die Kosten für die Umwelt sind zu hoch. Man kann an Anpassungen in der Bewirtschaftung denken, sagt Kerstin Neumann. Spezielle Behandlungen zur Verzögerung der Blüte und zur Vermeidung von Frostschäden, Schattierungsnetze, Tröpfchenbewässerung am besten mit gesammeltem Regenwasser und vieles mehr. Und man kann über mehr Vielfalt in den Obstplantagen nachdenken, die oft aus genetisch identischen Bäumen bestehen, was sie aber anfällig für Schädlinge und Stress macht.

Schließlich wäre Teil der Lösung, die Definition neuer Zuchtziele. Nicht mehr nur Ertrag, Größe und Haltbarkeit, sondern stärker ihre Widerstandsfähigkeit müsste neue Sorten auszeichnen. Hierfür könnte man alte, robuste Sorten einkreuzen, die vielleicht nicht ganz so tollen Ertrag bringen, aber dafür Stresstoleranz aufweisen – und auch an Sorten denken, die aus Ländern kommen, wo es bereits jetzt wärmer und trockener ist und die deshalb eine geringere Kälteperiode benötigen, sagt Kerstin Neumann.

Im Blick vieler Pomologen: Malus sieversii. Im Genom des Wildapfels vermuten sie die Fähigkeiten, unsere Äpfel wieder robuster zu machen. Äpfel haben eine natürliche genetische Vielfalt, mit der sie sich im Laufe der Zeit an verschiedene Lebensräume angepasst haben. Doch durch das ertragsorientierte Züchten sind viele Fähigkeiten verloren gegangen. Das Ziel waren große, süße, meist rote, knackige Äpfel. Wie diese Sorten mit Schorf oder Wanzen klar kommen, war zweitrangig. Dafür lieferte die chemische Industrie Lösungen. Durch das Einkreuzen alter Sorten oder von Wildäpfeln könnte die genetische Basis unserer Kulturäpfel wieder breiter werden. Doch das wird dauern. Klassische Züchtung langsam wachsender Bäume braucht Jahrzehnte.

Bunte Vielfalt: Auf dem Markt in Almaty.

Schneller ginge es mit Gen-Editing, also mit Hilfe von Technologien wie der Genschere CRISPR (Clustered regularly interspaced short palindromic repeats). Anstatt zu warten, bis die neuen Bäume groß genug sind, um ihre Früchte zu testen, könnten Züchter Gene in Setzlingen einfügen, um die gewünschte Eigenschaften zu bekommen. In Europa ist die aktuelle Lage: Wenn Dinge auch mit Züchtung erreicht werden könnten, ist die Genschere CRISPR bedingt erlaubt, sagt Tom Schreiber. Der Molekularbiologe vom Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie in Hall sieht in der grünen Gentechnik eine Chance, die langwierige Züchtung zu beschleunigen.

Im Jahr 2010 wurde das Genom eines Golden Delicious erstmals sequenziert. Was damals noch Millionen Euro kostete. Heute sind solche Entschlüsselungen für wenige tausend Euro möglich. An der ETH Zürich haben Forscher bereits ein Gen gegen Feuerbrand aus einem Wildapfel in die Sorte Gala transferiert. Und Wissenschaftler kennen auch schon einige der Gene von Malus sieversii, die für Resistenzen – etwa gegen Schorf oder Besenwuchs – verantwortlich sind.

Für den erfolgreichen Einsatz der Schere müsse man die Genome annotieren, das heißt, die Baupläne der Äpfel entschlüsseln, sagt Schreiber. Zwischen einem resistenten und einem anfälligen Apfel gibt es viele genetische Unterschiede. Es ist entscheidend zu wissen, welche Genänderungen vorhanden sind, um den gewünschten Effekt zu bewirken. Dafür braucht es die Grundlagenforschung. Mit CRISPR könne man dann die passenden Genabschnitte gezielt in das Genom eines Zuchtapfels einbringen und damit eventuell ein ertragreichen und resistenten Apfel generieren. So könne die Genforschung in Zukunft die Züchtung enorm beschleunigen. Und wenn wir robustere Sorten schneller bekommen als nach jahrzehntelanger Züchtung, könnten wir auf Tonnen von Pestiziden früher verzichten. Ein echtes Plus für die Umwelt.

In Kasachstan ist Malus sieversii, die Hoffnung vieler Pomologen, nicht nur durch den Bau illegaler Häuser bedroht. Schon unter Stalin wurden wilde Apfelwälder für die Landwirtschaft gerodet. Der Botaniker Aimak Dzhangaliev, Autor des Standardwerks »Der Wildapfelbaum Kasachstans«, pflanzte deshalb 1970 an den Rand des Botanischen Gartens von Almaty mehrere Exemplare von Malus sieversii. Heute ist die Apfelwiese eingezäunt und ihre Eingänge sind mit Schlössern gesichert. Der Ort ist offiziell Teil der kasachischen Nationalparks. Die Schlüssel hält Gauhar Mukan in den Händen, 49. Die Biologin arbeitet im Labor für Genetik des Botanischen Gartens.

Diese Reportage entstand mit Unterstützung des Journalismfund Europe. Die gemeinnützige Stiftung für unabhängigen Journalismus nimmt keinerlei Einfluss auf die Recherche und deren Veröffentlichung.

Vom Urapfel gibt es fast 50 wilde Formen.

Die Äste der knapp 100 Bäume biegen sich unter ihrer Last: knallig rote, froschgrüne und honiggelbe Äpfel, mal klein und rund, mal grösser und länglich. Sie schmecken saftig und süß, sauer oder bitter. Es existieren etwa 50 wilde Formen von Malus sieversii, sagt Gauhar Mukan. Die Hälfte sind ursprüngliche Typen. Die anderen sind natürliche Hybride, die Kontakt mit domestizierten Sorten hatten. Viele Wildäpfel seien genetisch nicht mehr hundertprozentig rein, weil es in der Natur auch ohne menschliches Zutun Kreuzungen gebe.

Das Verbreitungsgebiet von Malus sieversii ist der Tian Shan. Das »Himmelsgebirge« erstreckt sich über Tadschikistan, Kirgistan, Usbekistan, Xinjiang im Westen Chinas bis in die Mongolei. In Kirgistan oder Tadschikistan gibt es auch wilde Apfelbäume, aber kaum mehr Apfelwälder wie in Kasachstan, sagt Gauhar Mukan. Dabei seien seit den 1990er Jahren sicherlich 80 Prozent der Bäume gefällt worden. Seit 2007 steht Malus sieversii auf der Roten Liste gefährdeter Arten, Status: »Hohes Risiko des Aussterbens in der Natur in unmittelbarer Zukunft«.

Maksut Schamschudinow, 34, soll das verhindern. Er ist seit fast 15 Jahren Ranger im Zhongar-Alatau-Nationalpark. Genauso lange existiert das Schutzgebiet. Das Abzeichen, das er an seiner Flecktarnjacke trägt, zeigt einen Schneeleoparden und einen Apfel. Einen Leoparden hat er in all den Jahren nicht gesehen. Sie sind zu scheu. Äpfel aber begleiten ihn auf Schritt und Tritt. In diesem Herbst liegen sie wie ein duftender Teppich unter den Bäumen. Der Nationalpark (eine Tagesreise entfernt von Almaty an der Grenze zu China) wird beherrscht von mit Gletschern bedeckten Bergen. Sie fließen in Wellen zur kasachischen Steppe hinab, werden mit jedem Tal flacher. An ihren Hängen Fichten, Pappeln, Eichen und in grossen Baumgruppen: Malus sieversii.

Als Kind wollte Maksut Schamschudinov Soldat werden und die Grenzen seines noch nicht lange unabhängigen Landes verteidigen. Jetzt schütze ich Apfelbäume, einen Schatz meiner Heimat, ein Geschenk an die Welt, sagt er mit leiser, aber ernster Stimme, als mache er Meldung. Mitten in die Einsamkeit der Berge hat die Parkverwaltung einige Stützpunkte bauen lassen, die aus ein, zwei Blockhütten bestehen, ein Windrad besitzen und über ausgeschlagene Wege auch mit der »Gazelle«, einem russischen Transporter mit Allradantrieb, kaum zu erreichen sind. Die Posten sind immer mit mindestens einem Ranger besetzt. Seitdem habe es keine Waldbrände gegeben und niemand schlage mehr illegal Holz.

Maksut Schamschudinow ist Ranger im Zhongar-Alatau-Nationalpark.
In den Apfelwäldern des Nationalparks sind die Wege von Wildäpfeln gezeichnet.
Der Zhongar-Alatau-Nationalpark ist seit 15 Jahren ein Schutzgebiet.
Die Biologin Gauhar Mukan arbeitet im Labor für Genetik des Botanischen Gartens in Almaty.
Zu Pferd schützt Maksut Schamschudinov die Apfelbäume im Nationalpark.
»Malus sieversii« ist vom Aussterben bedroht.
In der Baumschule im Zhongar-Alatau-Nationalpark arbeiten Forschende am Erhalt der Sorte.

Der Schutz der Apfelwälder durch Männer wie Maksut Schamschudinov hat für den kasachischen Staat keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen. Neben der simplen Tatsache, dass dadurch eine grandiose Natur bewahrt wird, ist es eher eine mögliche Investition in die Zukunft – auch in unsere in Europa. Niemand weiß, wie sich Umwelt und Klima noch verändern werden, was das für den Apfelanbau bedeutet und welche Eigenschaften von Wildäpfeln wichtig werden könnten. Aber Züchter:innen, die irgendwann vielleicht eine neue Sorte mit den robusteren Genen von Malus sieversii auf den Markt bringen, gehen die Verpflichtung ein, Kasachstan, das Land, aus dem der Urapfel stammt, zu beteiligen. So steht es zumindest im von 193 Staaten unterzeichneten Nagoya-Protokoll von 2010, das Biopiraterie verhindern und Gewinne gerecht verteilen will, die aus der Nutzung genetischer Ressourcen entstehen.

Jeden Tag bricht Maksut Schamschudinov zu einer Patrouille auf. Nicht weit entfernt liegt ein Korridor mit amtlich geprüften Malus sieversii Bäumen. Ihr Genom ist zu 100 Prozent ursprünglich geblieben, denn sie hatten keinen Kontakt mit kultivierten Sorten. In den kommenden Wochen werden die Ranger ihre roten und gelben Äpfel pflücken und nach Almaty ins Labor schicken. Dort werden sie untersucht. Die stärksten Samen kommen danach wieder zu uns in den Park und wir pflanzen sie ein, sagt Maksut Shamshudinov. Wir wollen die Bestände nicht nur bewahren, sondern wieder aufbauen.

Die Setzlinge wachsen zunächst im Tal im Dorf Lepsi. Dort, in der Baumschule des Zhongar-Alatau-Nationalparks, stehen sie brav in Reihen. Sie brauchen kaum Pflege. Jahrhundertelange Anpassung hat den Urapfel besonders trockenheits- und frosttolerant gemacht. Nach vier Jahren werden die Bäumchen in die Berge umgesetzt. Nicht jeder überlebt. Aber die Quote macht Wissenschaftler:innen in Kasachstan und Europa Mut, dass das einzigartige Genom von Malus sieversii nicht nur in Genbanken und Saatgutlagern überleben könnte.

So wie in den Bergen am Schwarzen Fluss. Dort oben auf einem Pfad in 1.300 Metern Höhe fordern die Ranger Besucher:innen auf, sich laut zu unterhalten oder zu singen, damit die Bären nicht überrascht werden, die sich an den Äpfeln eine Speckschicht für den Winter anfressen. Das Ziel – fast am Ende eines schmalen Tals – ist der älteste Apfelbaum des Parks. Seit über 300 Jahren steht er auf seiner Lichtung. Drei Männer können seinen rauen, wulstigen Stamm nur mühsam umspannen. Seine mächtigen Äste sind grau und brüchig, manche seiner Zweige tragen kaum mehr Blätter.

Die Zukunft unserer Äpfel ist ein müder Riese. Oben aber in seiner Krone, in zehn, fünfzehn Metern Höhe, leuchten immer noch kleine gelbe Äpfel.

DER KERN DES APFELS
Der Apfel verdankt seinen botanischen Gattungsnamen Malus (lateinisch: »böse«) der Bibel, in der er mit seinen verführerischen Kräften Adams und Evas Sündenfall auslöst. Den Zusatz sieversii erhielt der zentralasiatische Wildapfel, um den es in unserer Reportage geht, nach dem deutschen Botaniker Johann August Carl Sievers, der 1793 im Auftrag Katharinas der Grossen durch Sibirien und Zentralasien reiste. In seinem Bericht an die Akademie in Sankt Petersburg beschrieb er die Äpfel das erste Mal: Als ich den Fuß des Berges erreichte, beglückte mich die Göttin Flora mit einem Wald voller wunderschöner Äpfel (…). Die Äpfel, die ich hier fand, waren gute, schmackhafte Tafelobstsorten. Selbst in ihrem wilden Zustande haben sie die Grösse eines Hühnereis und eine rotgelbe Färbung.

Den eigentlichen Wert von Malus sieversii aber erkannte der russische Wissenschaftler Nikolai Wavilow während seiner Expedition durch Kasachstan 1929. Er bezeichnete die Wälder als eigentümliche Laboratorien, die eine Vielfalt von Pflanzenformen hervorbringen, und vermutete den Geburtsort unserer Kulturäpfel in den Bergen des Tian Shan. Eine Theorie, die mittlerweile durch moderne Genom-Analysen bestätigt wurde.

Verbreitet wurde Malus sieversii zunächst durch Bären, denn seine Kerne überstehen den Weg durch ihre Verdauungsorgane. Irgendwann pflanzten Menschen die Samen absichtlich ein. Über die Seidenstrasse – von Iran über den Kaukasus bis zum Mittelmeer – gelangten die Äpfel in den Westen, wo sie sich mit anderen Arten kreuzten.

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