Die Leibniz-Gemeinschaft wird 30 Jahre alt, doch zum Jubiläum blicken wir nicht zurück, sondern befragen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ganz am Anfang ihrer Karriere stehen. Was für ein Lebensgefühl haben sie, welche Erfahrungen machen sie als junge Forschende – und wie könnten ihre Erkenntnisse die Welt in 30 Jahren ein Stück verbessert haben? In Folge 1 antwortet Lennart V. Schmidt. Er promoviert am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam im Fach Geschichte.
LEIBNIZ: Herr Schmidt, wie würden Sie Ihr Forschungsthema jemandem auf einer Party erklären?
LENNART V. SCHMIDT: Ich untersuche, wie Computer die deutsche Migrationspolitik verändert haben.
Und was würden Sie zu einem Kollegen oder einer Kollegin sagen?
In meiner Arbeit geht es um den Einfluss von Kommunikationstechnologien und Computern auf die Migrationsverwaltung in westeuropäischen Behörden – und wie sich diese durch den technologischen Fortschritt verändert hat.
Was war bisher der wichtigste Moment in Ihrem Leben als Forscher?
Es gab zwei besonders prägende Momente. Der erste war die Entdeckung eines Interviews aus den 1970er Jahren, in dem ein Gastarbeiter mit dem Datenschutzbeauftragten von Nordrhein-Westfalen über das Ausländerzentralregister spricht. Die Fragen, die er damals stellte, sind auch heute noch sehr relevant für meine Forschung. Zum Beispiel: Warum braucht man ein solches Register und wer hat Zugriff darauf? Der zweite wichtige Moment war das Theaterstück »Pop, Pein, Paragraphen« am Maxim Gorki Theater in Berlin. Darin setzt sich der Regisseur Cem Kaya intensiv mit dem Ausländerzentralregister und der Überwachung von Migranten aus der Perspektive der Betroffenen auseinander. Ein Gespräch mit ihm hat mir neue Perspektiven eröffnet. Kayas‘ Fokus auf Erfahrung, Erinnerung und Widerstand, darauf, wie sich solche Strukturen auf das Leben der Menschen auswirken, war eine wertvolle Ergänzung zu meinem eigenen Zugang, der stärker verwaltungshistorisch geprägt ist.
Ihr liebster Arbeitsplatz?
Landesbibliothek Berlin, Breite Straße: Bester Kaffee, interessanteste Klientel und ein bisschen DDR-Charme. Und in der Stabi am Potsdamer Platz findet man mich auch öfter mal.


Wie könnte Ihre Forschung die Welt in 30 Jahren ein Stückchen verbessert haben? (Sie dürfen träumen.)
Ich würde gern ein stärkeres gesellschaftliches Bewusstsein dafür schaffen, wie umfassend Informationen über Ausländer*innen in Deutschland erfasst werden – und welche tiefgreifenden Konsequenzen dies für das Leben der Betroffenen haben kann. Problematisch ist nicht nur die schiere Menge der erhobenen Daten, sondern auch die fehlende Transparenz darüber, welche Behörden Zugriff auf diese Informationen haben und wie sie genutzt werden. Besonders brisant wird dies, wenn sicherheitsbehördliche Zusammenarbeit im Spiel ist: So etwa in den 1970er Jahren, als der deutsche Verfassungsschutz mit dem türkischen Geheimdienst MİT kooperierte, um türkische Gastarbeiter in Deutschland zu überwachen. Das führte dazu, dass viele Betroffene bei ihrer Rückkehr in die Türkei mit Verhören, Berufsverboten oder politischer Verfolgung rechnen mussten. Derartige Fälle werfen grundlegende Fragen nach Datenschutz, Rechtsstaatlichkeit und den politischen Implikationen digitalisierter Migrationsverwaltungen auf. Ein Traum: der Abbau von digitalen Grenzen und Grenzen im Allgemeinen.
In welcher Epoche wären Sie gerne Wissenschaftler gewesen? Oder ist heute die beste Zeit?
Eigentlich ist heute die beste Zeit, um in der Wissenschaft zu arbeiten – wobei ich natürlich auch keine andere wirklich kenne. Die Möglichkeiten, sich mit Wissenschaftler*innen aus der ganzen Welt zu vernetzen und auszutauschen, sind beeindruckend. Online-Archive und digitale Rechercheinstrumente erleichtern die Arbeit von Historiker*innen enorm. Gleichzeitig frage ich mich manchmal, ob die 1970er Jahre nicht auch ihren Reiz hatten. Damals konnte man noch längere Forschungsreisen mit dem Zug machen und war schwieriger zu erreichen. Beides wichtige Faktoren für gute Forschung und ein gutes Leben!
»Ein Leben für die Wissenschaft« – könnte dies einst der Untertitel für Ihre Biografie sein? Wenn nicht: Welchen Untertitel fänden Sie passend?
»Er liebte das Leben und das Leben liebte ihn.«
Wenn Sie sich mit Menschen Ihres Alters treffen, die nicht in der Wissenschaft arbeiten: Was ist der größte Unterschied zwischen Ihnen?
Sie haben oft einen geregelteren Alltag und arbeiten selten am Wochenende. Und viele meiner Bekannten hätten gerne mehr Zeit zum Lesen, nehmen sie sich aber nicht.
Wenn Sie sich mit älteren Forschenden Ihrer Disziplin treffen: Was ist der größte Unterschied zwischen Ihnen?
Alter ist doch nur Schall und Rauch!
Was ist Ihre größte Unsicherheit, bezogen auf Ihre Karriere?
Das ganze Leben ist eine Unsicherheit, aber sonst wäre es auch nicht spannend!
Wie schaffen Sie es, trotzdem gelassen zu bleiben?


Welche Eigenschaft halten Sie für die wichtigste, um Karriere in der Wissenschaft zu machen?
Neugierig bleiben. Durchhaltevermögen und nicht den falschen Menschen auf den Schlips treten.
Wie werden Sie als Wissenschaftler in der Gesellschaft wahrgenommen?
Ich glaube, die meisten Menschen denken, ich lese einfach nur Bücher.
Und wie würden Sie gerne wahrgenommen werden?
Gut wäre ein bisschen mehr Anerkennung dafür, dass Wissenschaft (schöne) Knochenarbeit ist und Anstellungsverhältnisse oft prekär und nicht familienfreundlich sind.
Bitte ergänzen Sie die folgenden Sätze. Sie können realistische Wünsche äußern oder Ihre Fantasie spielen lassen. Satz Nummer 1: Meine Arbeit wäre so viel einfacher, wenn ...
... der Verfassungsschutz transparenter mit seinem Archiv umgehen würde.
Davon hätte ich gern mehr:
Urlaubstage oder Zeit, in der ich remote im Ausland arbeiten kann.
Wenn ich etwas sofort abschaffen könnte, wäre das ...
... die überflüssige Bürokratie bei der Anstellung von Menschen ohne deutschen Pass. Unsere Ausländerbehörden sind für viele kein Ort der Unterstützung, sondern ein Symbol für Kontrolle, Unsicherheit und Hürden. Besonders problematisch ist, dass einzelne Sachbearbeiter über das Schicksal von Menschen entscheiden können. Das ist weder zeitgemäß noch fair.
Jede/r sollte wissen, dass ...
Wissen in konstantem Wandel ist und eng mit globalen und lokalen Machtstrukturen verwoben ist.
Um das ein für allemal richtig zu stellen:
Geschichte ist keine Aneinanderreihung von historischen Daten und Fakten, sondern ein kontinuierlicher Diskurs über verschiedene Perzeptionen der Vergangenheit.
Eine Kritzelei während eines Meetings?

Träumen Sie manchmal von der Arbeit? Wenn ja: Sind es angenehme Träume?
Ich träume schon lange nicht mehr oder kann mich nicht daran erinnern, wenn ich aufwache.
Nach dem Aufwachen: Wie fängt Ihr Tag gut an?
Warmes Frühstück, Radio, guter Tee und mindestens eine Stunde Zeit!
Worauf freuen Sie sich an einem ganz normalen Arbeitstag?
Auf das Mittagessen und den Tratsch mit Kollegen.
Worauf freuen Sie sich, wenn Ihr Arbeitstag zu Ende geht?
Kneipe, Café oder Kino. Menschen statt Bücher.
Ein hilfreicher Snack für zwischendurch?
Brot mit Käse!
Eine kleine Flucht aus dem (Arbeits)Alltag, die Ihnen hilft, schnell wieder aufzutanken?
Ein Sprung in den Wannsee (am besten im Sommer) oder eine kleine Siesta nach dem Mittagessen.
Was hilft Ihnen, Ideen zu finden?
Aktives Langweilen und Nichtstun. Weit unterschätzt und nicht sehr angesehen in der heutigen Zeit, aber mir kommen dabei immer die besten Ideen.
Was hilft Ihnen, Ihren Fokus zu behalten?
In Kreisen laufen. Menschen beobachten. Stoßlüften.
In welchen Momenten vergessen Sie während der Arbeit alles andere um sich herum?
Immer wenn es um persönliche Schicksale von Menschen geht.
LENNART V, SCHMIDT, 30, promoviert am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam im Fach Geschichte. Er ist Teil eines Forschungsprojekts zu »Digitalen Ungleichheiten«. Das Thema seiner Doktorarbeit lautet »Digital Borders und die Entstehung eines digitalen Migrationssystems in Deutschland und Westeuropa von den späten 1960er Jahren bis ins frühe 21. Jahrhundert«.