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Ich habe jeden Tag auf der Intensivstation mit dem Handy dokumentiert, sagt Linda Jaite und scrollt durch die Fotos. Sie zeigen: einen kleinen Jungen, angeschlossen an lebenserhaltende Geräte. Künstlich beatmet, ganz offensichtlich nicht ansprechbar. Es sind Bilder, die bis heute nachwirken, auch wenn es Jahre her ist, dass Jaite sie aufgenommen hat.

Es konnte mir niemand sagen, ob er jemals wieder wie vorher sein wird, erzählt die Mutter mir im Frühling 2025. Wir, Linda Jaite, ihr Sohn Ace, heute neun Jahre alt, und ich treffen uns zum Gespräch im Berliner Monbijoupark. Mit dabei ist auch Tilmann Kallinich. Er ist Professor und Leiter der Sektion »Rheumatologie« an der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Pneumologie, Immunologie und Intensivmedizin der Charité. Am Virchow Klinikum wurde er damals mit dem Fall von Ace Jaite betraut.

An einem Samstagvormittag sitzen wir zusammen auf einer Parkbank. Hinter uns kreuzen Ausflugsboote über die Spree, und während die S-Bahn über eine historische Brücke rüber zur Museumsinsel rattert, erzählt Linda Jaite ihre Geschichte, die zurück in die Jahre der Corona-Pandemie führt.

Freitag, 7. Januar 2022

Es ist Nachmittag als Linda Jaite, gleich nach der Arbeit, ihren Sohn vom Vater abholt. Ace fühlt sich schlapp, hat den ganzen Nachmittag über geschlafen – ungewöhnlich für den aktiven Jungen. Zurück zuhause beginnt er zu fiebern, auf über 42 Grad steigt die Temperatur bald an. Dreimal fährt Linda Jaite mit Ace in den folgenden Stunden in die Notaufnahme; sie werden immer wieder nach Hause geschickt. Der Zustand des Kindes verschlechtert sich rapide, immer weiter, bis Ace um 00:20 Uhr stationär aufgenommen wird. Einige Stunden später ist der Sechsjährige nicht mehr ansprechbar. Seine Augen bleiben geschlossen. Die Ursache für die Symptome? Kann nicht gefunden werden.                                             

Schon im Frühjahr 2020 beschreiben Ärzte im italienischen Bergamo, einem frühen Epizentrum der Pandemie, eine obskure neue Krankheit. Kinder erleiden dort einen Entzündungsschock, ein, oder zwei Wochen nach einer Covid 19-Infektion. Ist die Infektion selbst noch mild, oft sogar asymptomatisch verlaufen, tritt nun hohes, unsenkbares Fieber auf. Außerdem Durchfall, Erbrechen, Ausschläge am ganzen Körper, Herzschwäche. Viele Kinder müssen wegen multiplen Organversagens intensivmedizinisch behandelt werden.

Weltweit sterben Patienten zwischen zwei und 18 Jahren an der Covid-Folgeerkrankung, die im April 2020, vom RoyalCollege of Paediatrics and Child Health, dem Berufsverband der britischen Kinderärzte, einen eigenen Namen erhalten wird: Paediatric inflammatory multisystemic syndrome, kurz PIMS.

Niemand konnte mir sagen, ob er jemals wie vorher sein wird.

LINDA JAITE

Samstag, 8. Januar 2022

Ace Jaite wird in die Charité überstellt und gegen 23 Uhr stationär im Virchow-Campus des Universitätsklinikums aufgenommen. Während Ace im Krankenwagen durch Berlin rast, sammelt seine Mutter zu Hause die notwendigsten Dinge ein, Kleidung, ein paar Hygieneartikel. Sie spürt, dass sie beide so schnell nicht wieder aus dem Krankenhaus herauskommen werden. Im Virchow-Klinikum kommt Ace direkt auf die Intensivstation.

Herz und Nierenschwäche bedrohen damals das Leben ihres Sohns. Viele der folgenden Behandlungen müssen plötzlich und ohne Vorwarnung geschehen. Es ist eine dramatische Situation; nicht nur für die Familie Jaite, auch für das Klinikpersonal. Zu Beginn des Wochenendes stehen sechs Differenzialdiagnosen. Tilmann Kallinich hat einen Verdacht: PIMS.

Neben dem Alltag im Virchow-Klinikum leitet Kallinich seit sieben Jahren eine Arbeitsgruppe am Deutschen Rheuma-Forschungszentrum Berlin (DRFZ). Im Mittelpunkt seiner Arbeit an dem Leibniz-Institut stehen das kindliche Immunsystem und chronische Entzündungen im Kindesalter. Regelmäßig arbeitet er hier auch mit Mir-Farzin Mashreghi zusammen.

Mashreghi ist stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des DRFZ und forscht wie Kallinich zugleich an der Charité. Im Herbst 2021, als sich die PIMS-Fälle häufen, ruft Kallinich bei Mashreghi an: Die Blutproben der an PIMS erkrankten Kinder müssten dringend genauer analysiert werden.

Tatsächlich konnten Mashregi und sein Team bei allen an PIMS erkrankten Patientinnen und Patienten erhöhte Werte des Botenstoffs »TGFβ« im Blut nachweisen. Werte in dieser Höhe wurden zuvor nur bei alten und vorerkrankten Menschen festgesellt, während einer Corona-Infektion. Das Leben der betroffenen Kinder, so auch das von Ace, ist durch akutes multiples Organversagen bedroht. Bei schweren Verläufen von PIMS können rund 20 Prozent der für die Immunabwehr verantwortlichen T-Zellen aktiviert werden und einen Entzündungsschock auslösen.

Sonntag, 9. Januar 2022

Eine Mitarbeiterin wird aus dem Labor gebeten. Sie solle bitte in die Klinik fahren, jetzt gleich. Einen Bluttest machen. Vormittags wird die Probe genommen, am Nachmittag steht die Diagnose: Ace leidet an PIMS.

Da es sich um eine vom Immunsystem verursachte Krankheit handelt, wird PIMS von Kinder-Rheumatologen wie Tilmann Kallinich behandelt. Allerdings präsentiert sich die Krankheit ihm und seinen Kollegen bei Ace auf ungewöhnliche Weise: anders als bei anderen PIMS Verläufen ist sein Bewusstsein stark eingeschränkt, die Augenlider sind zugeschwollen. Zudem weisen seine Laborwerte auf gleich mehrere Erkrankungen hin.

Wegen der strengen Hygienemaßnahmen, die im Deutschland der Pandemie-Jahre gelten, spielt der Entzündungsschock PIMS hierzulande zunächst kaum eine Rolle. Es erkranken bei uns damals deutlich weniger Kinder als in anderen Ländern. Erst 2021, als die Zahl der Fälle immer höher steigt, wird Tilmann Kallinich als Kinderarzt mit der neuen Krankheit konfrontiert. 42 Patienten behandelt er zwischen Herbst 2021 und Frühling 2022. Bald gelingt es dem Team der Charité in Berlin, die Entzündungskaskade medikamentös zu durchbrechen. Alle ihre Patienten können gerettet werden. Ausschlaggebend für die erfolgreiche Therapie ist immer die rechtzeitige Diagnose.

Eine so obskure Krankheit wie PIMS ist Kallinich vorher nicht begegnet.

Neun Tage lang müssen Linda und Ace Jaite, Mutter und Sohn, auf der Intensivstation bleiben. Ace Zustand schwankt. Sein Hirndruck steigt so bedenklich, dass ein Loch in seinen Kopf gebohrt werden muss, um über einen Schlauch Flüssigkeit abzulassen. Nach sechs Tagen ist er zum ersten Mal wieder ansprechbar. Einen Tag später fragt Ace nach einem Glas Wasser.

Erst als er wieder reden konnte, wusste ich, es wird besser, erinnert sich Linda Jaite an diesen Tag. Seit drei Jahren lebt Ace nun frei von Beschwerden. Trotzdem fragt sich Linda Jaite in den Jahren nach der Entlassung immer wieder: Ist mein Sohn wirklich wieder ganz gesund?

Wie das Outcome langfristig ist, wussten wir damals ja noch nicht, sagt auch Tilmann Kallinich. Ihm ist heute noch anzumerken, wie schwer es ihm, dem erfahrenen Arzt, damals fiel, den Eltern nichts Verlässliches über den Verlauf der neuen Erkrankung sagen zu können. An der Charité landen die komplexen Fälle, viele sind schwer zu diagnostizieren. Beim abendlichen Treffen mit den Stationsleitern diskutiert Kallinich die diffusen Krankheitsbilder. Die Ärzte nähern sich von ihren verschiedenen Fachrichtungen. Eine so obskure, unbekannte Krankheit wie PIMS ist auch ihm vorher nicht begegnet.

Die Ergebnisse der Studie zum Mechnismus hinter PIMS erscheint im Frühjahr 2025 im weltweit renommierten Fachmagazin »Nature«. Das Team um Kallinich und Mashreghi am DRFZ konnte die Gründe für die Erkrankung finden und endlich Gewissheit schaffen.

Erst eine Woche vor unserem Gespräch erhält auch Linda Jaite den erlösenden Anruf von Kallinich: Wir gehen davon aus, dass es sich bei unserem kleinen Patienten um ein völlig gesundes Kind handelt. Ace hatte schlicht das Pech, an dieser seltenen Sequenz von Entzündungen zu leiden. Mit Spätfolgen ist nicht zu rechnen! Als sie diese Worte noch einmal hört, drückt Linda Jaite ihren Sohn an sich.

Nach unserem Gespräch fahren die beiden nach Hamburg zurück, wohin die zwei damals nach der Entlassung aus der Charité gezogen sind. Wir wollten endlich unsere Familie wieder um uns haben! Die Jaites und Kallinich verabschieden sich herzlich.

Der Kinderarzt begegnet der Mutter und ihrem Sohn auf Augenhöhe. Während der Recherche am Virchow-Klinikum fällt auf, dass Kallinich auf Station 29 das erste Wort immer an seine kleinen Patienten richtet.

Ein »Hallo!« für die fünfjährigen Kinder. Mit den größeren werden Situation, Diagnose und Therapie ausführlich besprochen. Tilmann Kallinich sagt: Die Art des Befindens, die Einschränkungen und was sie bedeuten, bekommt man nur heraus, wenn man das Kind direkt fragt.

Aktuell gibt es an der Charité keine PIMS-Patienten. Trotzdem erwartet Tilmann Kallinich neue Fälle. Denn die seltene Erkrankung dürfte für die meisten Ärtzinnen und Ärtze schon bald wieder schwerer zu erkennen sein. Die Aufmerksamkeit und das Wissen über PIMS schwinden nach der Pandemie schnell.

Immunsystem außer Kontrolle

Im Normalfall befielt der Botenstoff TGFβ dem Immunsystem, nach einer überstandenen Infektion, wieder »herunterzufahren«. Bei schweren Corona-Verläufen wird dieser Botenstoff jedoch deutlich zu früh ausgeschüttet und der Körper dadurch daran gehindert, effizient gegen das Corona-Virus vorzugehen. Bei PIMS wird zugleich das als Erreger des Pfeifferschen Drüsenfiebers bekannte Epstein-Barr-Virus (EBV) reaktiviert, mit dem sich rund 90 Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens anstecken – oft schon im Kindesalter und unbemerkt. Es kommt zu einer extremen Überreaktion des Immunsystems und schließlich zu einer Art Immunschock. Der Körper produziert immer mehr Immunzellen gegen das sich vermehrende Virus, die aber nicht funktionsfähig sind. Schließlich greift das außer Kontrolle geratene Immunsystem die Organe an – mit Attacken, die tödlich enden können. Lebensrettend ist allein die frühzeitige Diagnose.

Nachdem der Mechanismus hinter PIMS verstanden ist, geht es jetzt darum, inwieweit latente Viren – Viren, die wir über Jahre unwissend mit uns herumtragen – verantwortlich für chronisch-entzündliche Erkrankungen sind. So steht die Reaktivierung von EBV ebenfalls im Verdacht für Multiple Sklerose und weitere Autoimmunkrankheiten verantwortlich zu sein. Die neuen Erkenntnisse zu PIMS könnten zudem dabei helfen, Long Covid besser zu therapieren. Eine Impfung für EBV zu finden ist ein weiteres Ziel.

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