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Vor den Oberlandesgerichten in Stuttgart und Frankfurt laufen derzeit Verfahren gegen eine »Reichsbürger«-Gruppierung, die sich – unter maßgeblicher Beteiligung von ehemaligen Bundeswehrsoldaten – auf einen gewaltsamen Umsturz an einem »Tag X« vorbereitet haben soll. Bereits 2017 wurde der Oberleutnant und Rechtsterrorist Franco A. festgenommen; auch er hatte Vorbereitungen für einen Tag X getroffen. Seitdem ist das Problem rechtsextremer Bundeswehrsoldaten wieder auf der Tagesordnung. Mit Jakob Saß vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam haben wir über rechtsextreme Umtriebe in der Bundeswehr gesprochen – und ihn gefragt, wie die Bundeswehr auf Restradikale in den eigenen Reihen reagiert.

LEIBNIZ Herr Saß, für Ihre Doktorarbeit untersuchen Sie die radikale Rechte in der Bundeswehr von ihrem Gründungsjahr 1955 bis 1998. Welche Kontinuitäten werden hier sichtbar?

JAKOB SAß Die Bundeswehr war, wie alle Armeen, immer attraktiv für Rechtsradikale. Dort können sie sich ausleben in ihrer Ideologie. Sie finden dort Hierarchien, Kameradschaft, ihr Ideal von »soldatischer Männlichkeit« und nicht zu vergessen Waffentraining und den Zugang zu Waffen. In der Traditionspflege der Bundeswehr wurde nach 1945 zudem noch lange die Wehrmacht verherrlicht, und auch das war eine große Schnittmenge mit der radikalen Rechten. Es gibt in der Bundeswehr also viele Kontinuitäten, die Linien zwischen Fällen wie dem des Rechtsterroristen Franco A. und weiter zurückliegenden rechtsradikalen Vorfällen bilden – gerade auch beim Thema Rechtsterrorismus.

Können Sie ein Beispiel für diese Kontinuitäten nennen?

Ein Beispiel, das mich sehr an den Fall Franco A. erinnert, spielte sich Mitte bis Ende der 1970er Jahre in einer Kaserne in Wentorf ab, einem Bundeswehrstandort in der Nähe von Hamburg. Da gab es eine Kompanie im Jägerbataillon 162, die ein elitäres Selbstverständnis pflegte, weil viele der Soldaten über eine Spezialausbildung verfügten: als Fallschirmspringer, Einzelkämpfer oder Scharfschütze – sie haben also eine ähnliche Ausbildung durchlaufen wie später Franco A.. Ab Mitte der 1970er Jahre diente in dieser Einheit in Wentorf dann allerdings auch eine Gruppe von bekennenden Neonazis. Die haben sich alle möglichen Sachen erlaubt: Sie feierten Hitlers Geburtstag, sangen NS-Lieder, schmückten ihre Stube in der Kaserne mit NS-Devotionalien aus. Darunter zum Beispiel eine große Hitlerbüste aus Bronze, an der Wand hingen Hakenkreuzfahnen. Sie planten in »Sandkastenspielen« sogar bereits rechtsterroristische Aktionen. Vorgesetzte und Kameraden tolerierten dieses Treiben weitestgehend, weil die Neonazis zu den Leistungsbesten gehörten.

Wo sehen Sie die Parallelen zu Franco A.?

Einige dieser Neonazis wurden im Laufe der 1970er Jahre entlassen – wohlgemerkt nicht wegen ihrer offenen rechtsradikalen Haltung, sondern wegen anderer Vergehen. Nach dem Rauswurf wuchs ihr Hass auf die Bundeswehr und den Staat. Die Ex-Soldaten haben sich weiter radikalisiert und die sogenannte Kühnen-Schulte-Wegener-Gruppe gegründet, eine rechtsterroristische Untergrundgruppe, benannt nach den führenden Köpfen der Gruppe. Darunter war auch der Neonazi-Anführer und entlassene Bundeswehroffizier Michael Kühnen. Die Gruppe war Teil eines bundesweiten und wahrscheinlich sogar transnationalen Netzwerks aus rechten Wehrsportlern, Neonazis und Rechtsterroristen. Ende der 1970er Jahre bereitete sich dieses Netzwerk mit Übungen, Waffenlagern und Raubüberfällen auf einen Putsch am  »Tag X« vor. Das alles erinnert stark an das heutige »Hannibal«-, beziehungsweise »Nordkreuz«-Netzwerk, dem auch Franco A. angehörte.

Welche Rolle haben aktive und ehemalige Soldaten in diesem Netzwerk gespielt?

1979 begann der erste Rechtsterrorismus-Prozess in der Geschichte der Bundesrepublik. Es ging um die Kühnen-Schulte-Wegener-Gruppe, von deren Mitgliedern auffällig viele im erwähnten Jägerbataillon in Wentorf gedient hatten. Dieses Verfahren hat viele Strukturen offengelegt. Meine Forschung zeigt zum Beispiel, dass sich die Rechtsterroristen nicht nur aus der Bundeswehr rekrutierten, sondern sie auch zum Ziel machten: Die Gruppe hat auf das Know-how von Soldaten zurückgegriffen, die gezielt ihre eigenen Bundeswehrstandorte überfielen, um Waffen und Munition zu stehlen und dabei sogar Menschen verletzten: eigene Kameraden, aber auch Soldaten aus den Niederlanden. Nur durch das Eingreifen der Sicherheitsbehörden ist es damals nicht zu schlimmeren Taten gekommen.

Es gibt eine große Dunkelziffer, weil viele Fälle nicht gemeldet wurden, zum Beispiel wegen Korpsgeist.

JAKOB SASS

Der Historiker Jakob Saß
Der Historiker Jakob Saß vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Foto JÖRG NEUWERTH

JAKOB SASS
ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Im Projekt »Die radikale Rechte in Deutschland, 1945-2000« liegt sein Fokus auf Rechtsextremismus in der Bundeswehr.

Aber die Sicherheitsbehörden konnten nicht alle Taten dieses Netzwerks verhindern.

Ja, ein ehemaliger Soldat aus dem Wentorfer Neonazi-Netzwerk hat 1981 einen Mord an einem homosexuellen Neonazi begangen – wahrscheinlich im Auftrag seines »Führers« Michael Kühnen. Beim Prozess sagte er stolz: »Befehl ist Befehl. Das habe ich bei der Bundeswehr gelernt.« Es schien ihn wohl zu befriedigen, dass er seine Kenntnisse aus der Einzelkämpferausbildung endlich »an einem echten Menschen« anwenden konnte.

In den 1960er Jahren zog die rechtsradikale NPD, die sich heute »Die Heimat« nennt, in mehrere Landtage ein. Die Partei hat unter anderem versucht, sich als »Soldatenpartei« zu inszenieren. Hat das unter Bundeswehr-Angehörigen verfangen?

Die militärpolitischen Positionen der NPD stimmten zum Teil mit dem überein, was auch konservative Offiziere in der Bundeswehr propagierten. Die größte Schnittmenge bestand in der Traditionswürdigkeit der Wehrmacht, deren tiefe Verstrickung in NS-Verbrechen lange Zeit schlichtweg verleugnet wurde. Dieser geschichtsrevisionistische Mythos von der »sauberen Wehrmacht« wurde insbesondere von der Aufbaugeneration der Bundeswehr stark mitgetragen. Ganz generell ging es aber darum, dass der Beruf des Soldaten wieder ein größeres Prestige in der Gesellschaft genießen sollte und dass die Bundeswehr unabhängiger von der Politik, also vom Verteidigungsministerium, werden sollte. Eine ähnliche Militärpolitik vertritt heute die AfD.

Gab es auch personelle Überschneidungen zwischen NPD und Bundeswehr?

Im Vergleich zu anderen Parteien besetzte die NPD auffällig viele Plätze in der Kommunal- und Landespolitik mit Unteroffizieren und Offizieren. Auch bei der Bundestagswahl 1969 bot die NPD mehr Soldaten eine Karrierechance als die meisten anderen Parteien. Das Zeitfenster, in dem die NPD erfolgreich um Soldaten geworben hat, war allerdings kurz. Das war so gegen Mitte der 1960er Jahre bis zur Bundestagswahl 1969, bei der die NPD den Einzug in den Bundestag verpasst hat. Nach dieser Niederlage zersplitterte die rechtsradikale Szene. Die NPD verlor stark an Einfluss, radikalisierte aber mit Kampagnen weiter Anhänger, darunter auch die erwähnten Neonazis aus dem Wentorfer Bataillon, die zu Rechtsterroristen wurden.

Wie verbreitet war rechtsradikales Gedankengut im Rest der Truppe?

Es gibt eine große Dunkelziffer, weil viele Fälle nicht gemeldet wurden, zum Beispiel wegen Korpsgeist. Auch der Militärische Abschirmdienst sah über Jahrzehnte strukturell beim »Linksextremismus« eine größere Gefahr für die Bundeswehr als beim »Rechtsextremismus«. Die meisten rechtsradikalen Fälle, die dokumentiert sind, betreffen Wehrdienstleistende. Das waren mehrheitlich Delikte, die man als Propaganda-Delikte bezeichnet. Das heißt, die Soldaten zeigten, oft alkoholisiert, im Dienst oder außerhalb des Dienstes den Hitlergruß oder sangen NS-Lieder. Seit der Gründung der Bundeswehr gab es außerdem immer wieder Berichte über antisemitische Vorfälle. Ich nenne es Alltagsantisemitismus, vermeintliche »Judenwitze«, die auch Vorgesetzte verbreiteten. Das hielt sich sehr, sehr lange – bis es Ende der 1970er Jahre zum Skandal kam.

Was ist damals passiert?

Im Februar 1977 haben Offiziersstudenten auf dem Gelände der Bundeswehrhochschule in München einen Junggesellenabschied gefeiert. Sie waren stark alkoholisiert, haben in ihrer Wohneinheit erst Volkslieder von Heino gesungen, dann kamen ein paar alte Propagandalieder der Nazis hinzu, und irgendwann machten die Soldaten den Hitlergruß und brüllten »Sieg Heil« und »Heil Hitler«. Gegen Mitternacht wurde auf dem Hof ein Feuer entzündet, und es fielen antisemitische Sprüche wie »Legt noch einen Juden nach, das Feuer geht aus«. Zeugen sagten später aus, die Offiziere hätten auch Papierzettel mit dem Wort Jude bemalt und sie ins Feuer geschmissen. Deswegen wurde der Vorfall später als »symbolische Judenverbrennung« bezeichnet.

Neonaziaufmarsch in München anlässlich der Wehrmachtsausstellung im Oktober 2002.
Neonaziaufmarsch in München anlässlich der Wehrmachtsausstellung im Oktober 2002. Foto WIKIMEDIA COMMONS

Mitgemacht haben damals keine Wehrdienstleistenden, sondern junge Offiziere – die künftigen Ausbilder und Vorgesetzten. Welche Rolle spielen Dienstgrad und Dienstzeit bei der Verbreitung rechtsradikaler Einstellungen oder der Verharmlosung davon?

Sozialwissenschaftliche Studien haben von den 1960er bis in die 1990er Jahre immer wieder gezeigt, dass mit dem Dienstgrad auch die Identifikation mit eher konservativen Parteien zunimmt. Das ist auch in den meisten anderen Behörden so. In den 1980er Jahren gab es aber viele Generäle aus der Aufbaugeneration der Bundeswehr, die nach ihrer Pensionierung zusätzlich angefangen haben, in neurechten Blättern zu publizieren und dort den Mythos von der »sauberen Wehrmacht« zu verteidigen. Solche Vorgesetzten, die tendenziell konservativ eingestellt sind, haben auch rechtsradikales Verhalten ihrer Soldaten toleriert oder entschuldigt.

Wie ist die Bundeswehr mit dem Vorfall der »symbolischen Judenverbrennung« umgegangen?

Er wurde zunächst intern diskutiert. Die Vorgesetzten kamen letztlich zu dem Schluss, dass es sich bei den beteiligten Soldaten nicht um Antisemiten handele, sondern um unreife junge Menschen ohne Geschichtsbewusstsein. Circa ein halbes Jahr nach dem Vorfall kam dann jedoch der erste öffentliche Bericht heraus. Und der stieß eine Skandalwelle an. Die Öffentlichkeit in Deutschland und international empörte sich. Es kamen viele kritische Stimmen aus Israel und von jüdischen Verbänden, die sagten: Davor haben wir immer gewarnt!

Hat die Empörung Handlungsdruck aufgebaut?

Die Bundeswehr musste reagieren, das Verteidigungsministerium musste reagieren. Und das machten sie mit zwei Entlastungsnarrativen. Zum einen hieß es: Das war ein Einzelfall. Dieses Narrativ ist schon seit den 1950er Jahren zu beobachten, wenn es um rechtsradikale Vorfälle in der Bundeswehr geht – aber auch allgemein in der Bundesrepublik. Zum anderen, hieß es, könne die Bundeswehr als »Spiegel der Gesellschaft« nicht für den Antisemitismus, der aus der Gesellschaft in die Truppe getragen werde, verantwortlich gemacht werden. Dieses Narrativ fiel in eine Zeit, in der es immer wieder antisemitische Schmierereien auf jüdischen Friedhöfen gab und in großem Stile Literatur erschien, die die NS-Zeit verherrlichte; diese Phase wurde von Politikern und Medien deshalb auch als »Hitler-Welle« bezeichnet. Auch wenn der Rechtsextremismus in unserer heutigen Zeit als größte Bedrohung für die Demokratie angesehen wird, gibt es diese zwei Entlastungsnarrative noch immer.

Warum hat die Bundeswehr solche Entlastungsnarrative bemüht?

In Zeiten des Kalten Krieges brauchte die Bundeswehr nicht nur wehrfähige, sondern auch wehrwillige Soldaten. Gerade in der Zeit seit 1968 war der Mangel an Freiwilligen und die Zahl der Wehrdienstverweigerern in der Bundeswehr groß. Außerdem hatte die Heeresführung Angst vor einer Unterwanderung von links. In meiner Forschung konnte ich beobachten, dass militärisch leistungsstarke Rechtsradikale in dieser Zeit von den Vorgesetzten und Kameraden nicht nur oft toleriert wurden, sondern auch aktiv in ihrer Karriere gefördert wurden.

Aktuell sucht die Bundeswehr in Angesicht des russischen Angriffs auf die Ukraine erneut händeringend wehrfähiges und -williges Personal, sogar eine Wiedereinführung der Wehrpflicht wird diskutiert. Sehen Sie die Gefahr, dass sich dadurch rechtsextremes Gedankengut stärker in der Truppe ausbreiten kann?

Ich teile die Sorge, dass die Gefahr besteht, dass rechtsradikale Soldaten wieder vermehrt toleriert werden könnten – schlicht, weil man sie braucht. Das gilt insbesondere für Kampftruppen und Eliteverbände, die am nächsten am Kampf dran sind. Um noch einmal auf ihn zurückzukommen: Auch deswegen wurde der Elitesoldat Franco A. weiter in der Bundeswehr toleriert. In seiner Masterarbeit gab es rechtsextreme, antisemitische Ideologien. Es gab ein Gutachten, dass das ganz klar herausgearbeitet hat. Und trotzdem wurde die Masterarbeit damals akzeptiert. Er konnte seine Karriere in der Bundeswehr fortsetzen, weil die Vorgesetzten gesagt haben: Er bringt doch die soldatischen Leistungen.

Sehen Sie in der Bundeswehr denn auch Fortschritte im Umgang mit rechtsextremen Vorfällen?

Die bisherigen Skandale haben in der Geschichte der Bundeswehr immer wieder Liberalisierungsschübe und Lernprozesse angestoßen. Zum Beispiel wurde die Traditionspflege und die Bildung in der Bundeswehr reformiert. Nach dem Skandal an der Bundeswehrhochschule 1977 hat das Verteidigungsministerium sogar eine Reform der Schulbildung zum Thema Nationalsozialismus – außerhalb des eigenen Verantwortungsbereichs – angestoßen. Das wäre auch heute eine Lektion für die Bundeswehr: Nicht gleich jeden Bericht abzuwehren und zu bagatellisieren, sondern konstruktiv aufzugreifen. Aber ich sehe heute durchaus Fortschritte. Die Skandale seit 2017 haben wirklich etwas bewegt. NS-Devotionalien wurden aus den Kasernen entfernt, es werden neue Gesetze erlassen, die politische Bildung und Extremismusprävention in der Truppe wurde nochmals reformiert. Aber es ist natürlich trotzdem noch viel zu tun.

Welche Maßnahmen müssten die Bundeswehr oder ihre Angehörigen ergreifen, um glaubwürdig gegen Rechtsradikalismus in den eigenen Reihen vorzugehen?

Ein historisches Vorbild könnte der ehemalige General und Grünen-Politiker Gert Bastian sein. Das war einer der wenigen Offiziere, die sich in der Geschichte der Bundeswehr proaktiv und öffentlich von Rechtsradikalismus und Antisemitismus abgrenzten – ganz ohne einen vorigen Skandal.

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