leibniz

ULRIKE KÄNDLER

ist Referentin für Open-Access-Finanzierung an der TIB – Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften.

LEIBNIZ Frau Kändler, seit einiger Zeit gibt es Kritik, im wissenschaftlichen Publikationswesen gebe es zu wenig Bibliodiversität. Was ist damit gemeint?

ULRIKE KÄNDLER Der Begriff Bibliodiversität ist inspiriert vom Konzept der Biodiversität, also der Vielfalt von Organismen und Lebensräumen in einem gesunden, funktionierenden Ökosystem. Ursprünglich wurde er für den populären Buchmarkt entwickelt, 2017 dann für das wissenschaftliche Publizieren geschärft. Ich verstehe darunter eine Publikationslandschaft, die der Vielfalt der Forschung und den Bedürfnissen ihrer Communities gerecht wird. Forschung umfasst ein großes Spektrum an Themen, Arbeitsweisen und Finanzierungsmechanismen, aber auch an Sprachen, Formen der Begutachtung und Formaten bei der Kommunikation ihrer Ergebnisse. Das Publikationswesen sollte diese Vielfalt unterstützen. Es sollte offen, ohne finanzielle oder technische Barrieren, den Austausch von Wissen und Ideen stärken. Stattdessen schreitet die Homogenisierung voran. Publikationswege und Publikationsformate sind immer enger mit den Gewinninteressen weniger multinationaler Verlage verbunden.

Warum ist Bibliodiversität wichtig?

Wissenschaft muss offen und plural sein – sonst kann sie nicht innovativ sein. Das hat sich sehr deutlich in der Corona-Pandemie gezeigt. Zu Beginn der Pandemie haben viele Forschende ihre Ergebnisse direkt über Preprintserver im Open Access veröffentlicht. Weltweit konnten Forschende mit den Daten arbeiten, die Schlussfolgerungen prüfen und auf ihnen aufbauen, noch bevor die Paper in den Peer Review der Zeitschriften gingen. Später haben dann viele Verlage ihre Bezahlschranken für Beiträge zur Covid-Forschung entfernt. Diese Offenheit war wichtig für die raschen Fortschritte beim Verständnis des Virus, der Entwicklung von Diagnosetests und Behandlungen. Die mRNA-Impfstoffforschung wiederum ist ein gutes Beispiel für Pluralität und deren Bedeutung. Sie war in den 1990er und bis weit in die 2000er Jahre hinein nämlich eher randständig, nur wenige Forschende und Investoren zeigten Interesse.

Auf dem Publikationsmarkt dominieren fünf große kommerzielle Player, die Tausende von Zeitschriften besitzen.

ULRIKE KÄNDLER

Nun war die Pandemie eine Ausnahmesituation, in der die Politik auch in andere Wirtschaftsbereiche stark eingegriffen hat. Warum denken Sie, dass man den Publikationsmarkt auch in weniger stürmischen Phasen nicht sich selbst überlassen sollte?

Wenn Wissen zur Ware wird, ist der offene, unabhängige Austausch in Bedrängnis. Auf dem Publikationsmarkt dominieren große kommerzielle Player, die Tausende von Zeitschriften und Dutzende von Imprints besitzen. Die TOP-5-Verlage weltweit – Elsevier, Springer Nature, Wiley, Taylor & Francis und Sage – kontrollieren über 50 Prozent des Zeitschriftenmarktes, in einzelnen Disziplinen sogar mehr als 70 Prozent. Diese Marktkonzentration nimmt weiter zu. Elsevier zum Beispiel ist längst kein reiner Verlag mehr, sondern Teil eines Konzerns, der Services für den gesamten Forschungszyklus anbietet, vom Datenmanagement über die Veröffentlichung bis zur Bewertung von Forschungsergebnissen. Dadurch kann Elsevier die Daten der wissenschaftlichen Aktivitäten sammeln und vermarkten. Forschung wird so immer enger an kommerzielle und proprietäre Dienste gebunden. Es droht ein sogenannter Vendor-Lock-In, also eine Situation, in der die Forschenden von den Produkten oder Dienstleistungen eines bestimmten Anbieters abhängig sind und beim Versuch, zu einem anderen Anbieter zu wechseln, auf erhebliche Hindernisse stoßen. Das schadet der wissenschaftlichen Souveränität und Innovationsfähigkeit.

Welche Folgen hat das für die Forschenden?

Sie, beziehungsweise ihre Einrichtungen nehmen das vor allem wegen der steigenden Kosten für Verlagszeitschriften wahr. Wer die bezahlpflichtigen Inhalte der Zeitschriften lesen möchte, braucht nach wie vor ein Abonnement. Weil die Forderungen nach offenem Zugang lauter wurden, haben die Großverlage ihr Geschäftsmodell auf Open Access umgestellt. Aber wer einen Artikel im Open Access publizieren möchte, muss Publikationskosten bezahlen – und die unterliegen letztlich der gleichen Preislogik wie zuvor die Abos im Subskriptionssystem. Die sogenannten Article Processing Charges (Bearbeitungsgebühren pro Artikel, APC) kosten zwischen 2.000 und 11.000 Euro, je nach Zeitschrift. Die Forschenden sind also noch häufiger mit den hohen Preisen konfrontiert: sowohl beim Lesen, als auch beim Publizieren. Um diese Barriere zu senken, schließen Forschungseinrichtungen sogenannte Publish & Read-Verträge für die großen Verlagsportfolios ab. Dadurch binden sie allerdings große Teile ihres Budgets für mehrere Jahre an ein einzelnes Unternehmen. Und es ist nicht leicht, die Verträge wieder zu kündigen. Das war aufgrund der monopolartigen Stellung der Verlage schon früher so, als es nur um das Lesen ging. Inzwischen wirkt sich eine Kündigung zusätzlich auf die Möglichkeiten der Forschenden aus, im Open Access zu publizieren.

Illustration zu Open Access.

Man kann aber doch auf vielen Wegen publizieren, ohne dafür zahlen zu müssen und auch das Lesen ist ohne Gebühren möglich. Warum gibt es trotz Open Access keine echte Vielfalt?

Das liegt daran, dass die Bewertung wissenschaftlicher Leistung weiterhin eng mit dem Publikationsort verbunden ist, also der Zeitschrift oder der Verlagsmarke. Angesehene Zeitschriften, werden darüber definiert, wie oft aus ihnen zitiert wird. Der sogenannte Journal Impact Factor gilt als wichtiger Indikator für die Bedeutung der Forschung. Für Forschende ist entscheidend, wo sie publizieren, denn das hat Einfluss auf ihre Karriere und ihren Zugang zu Fördergeldern. Sie können nicht frei entscheiden. Das stärkt wiederum jene Verlage, die den Zugang zu den reputationsbildenden Zeitschriften und Metriken dominieren. Das Gegenteil von Bibliodiversität also.

Was sind denn die Folgen von mangelnder Bibliodiversität?

Es ist zum einen teuer, selbst für die vergleichsweise gut ausgestatteten europäischen Wissenschaftssysteme. 2023 äußerte der Rat der Europäischen Union die Sorge, dass die Kosten für das Publizieren untragbar werden könnten und für die Forschung weniger Mittel bereitstehen. Zum anderen entstehen – wenn ich hier etwas zuspitzend zitieren darf – Monokulturen des Geistes. Bezahlschranken entscheiden, welche Forschungsergebnisse offen und zugänglich publiziert werden. Das benachteiligt zum einen kleinere Fachgebiete, die über weniger Mittel verfügen. Zum anderen wird Forschung aus ganzen Weltregionen unsichtbar, die weniger in ihr Publikationswesen investieren können oder wollen. Das lässt sich auch an den Zeitschriften selbst erkennen: Redaktionen stellen auf englische Sprache um und setzen auf globale und aktuelle Forschungsthemen, weil das die Zitationszahlen erhöht. Und was oft noch unterschätzt wird: Die Großverlage bauen umfassende, proprietäre Datenbestände auf. Sie werden verwendet, um Produkte zu entwickeln, die die Wissenschaft dann wieder einkaufen muss – zum Beispiel KI-basierte Forschungsassistenten.

Bezahlschranken fördern eine Monokultur des Geistes, weil sie darüber entscheiden, welche Forschungsergebnisse publiziert werden.

Wie kann man das ändern?

Die Wissenschaft muss wieder mehr Verantwortung für das Publizieren übernehmen und ein offenes, gemeinnütziges Modell etablieren. Einige wissenschaftspolitische Initiativen für dieses sogenannte »Diamond Open Access«, gibt es bereits. Ihnen geht es darum, ein vielfältiges Open-Access-Publikationswesen aufzubauen, das in den Händen wissenschaftlicher Fachcommunities liegt. Weder Autor:innen noch Leser:innen müssen im Diamond Open Access Gebühren bezahlen.

Manche würden sagen, das klingt revolutionär – oder illusorisch.

Diamond Open Access wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und vielen anderen europäischen Wissenschaftseinrichtungen und Forschungsförderern unterstützt. Es gibt weltweit schon Tausende von Fachzeitschriften, die seit Jahrzehnten nach diesem Prinzip arbeiten. Auch Institute der Leibniz-Gemeinschaft geben Diamond-Open-Access-Zeitschriften heraus. Diese Publikationslandschaft existiert also bereits. Jetzt gilt es, sie organisatorisch, technisch und finanziell so zu stärken und zu vernetzen, dass eine leistungsfähige Alternative zum kommerziellen Sektor entsteht.

Aber wird diese Alternative denn jemals so attraktiv sein wie die kommerzielle Konkurrenz, deren Journal Impact Factor für die Autor:innen ein echter Karrierebooster sein kann?

Die Rahmenbedingungen der Wissenschaftsevaluierung müssen sich ändern. Es ist keine neue Erkenntnis, dass die Engführung auf bibliometrische Zahlen und starke Marken in der Hand von Wirtschaftsunternehmen der Qualität von Forschung nicht gerecht wird. Mit der Declaration on Research Assessment und der Coalition for Advancing Research Assessment gibt es bereits internationale Vorstöße für eine Reform. Aber um Bibliodiversität zu sichern, müssen alle Einrichtungen Verantwortung übernehmen und entsprechend handeln. Denn der zweite wichtige Punkt ist das Geld. Diamond-Open-Access-Infrastrukturen werden von wissenschaftlichen Einrichtungen, Fachgesellschaften oder Forschungsförderern betrieben. Für die Finanzierung gibt es verschiedene Modelle, je nachdem ob eine Institution alleine oder mehrere gemeinsam die nötigen Mittel aufbringen. Bisher beteiligen sich aber nur wenige Einrichtungen an dem kooperativen System. Das ist paradox, wenn man an die hohen Summen denkt, die zurzeit aus den meist öffentlich finanzierten wissenschaftlichen Einrichtungen in den kommerziellen Sektor fließen.

Vielleicht auch interessant?